Das Erbe der Runen 01 - Die Nebelsängerin
Ortes, an dem es keinerlei Leben mehr gab, und das nervöse Schnauben der Pferde, der gedämpfte Hufschlag und das leise Klirren der Zügel muteten darin wie ein Frevel an.
»Bei den Göttern!«, hörte Bayard Keelin bestürzt murmeln. Einer der Krieger sprach ein leises Gebet. Die anderen schwiegen; fassungslos saßen sie in den Sätteln, hölzern und starr, als hätte ihnen der unvorstellbare Anblick weit mehr als nur die Sprache geraubt.
»Weiter!« Mit grimmiger Miene, die nichts von seinen Gefühlen preisgab, hielt Bayard auf den Teil Lemriks zu, der einst der Marktplatz gewesen war.
Je näher sie dem Herzstück des Dorfes kamen, desto mehr wurde der allgegenwärtige Schwefel- und Brandgeruch von einem bestialischen Gestank abgelöst, der sie schon bald zwang, die Hand schützend vor Nase und Mund zu halten. Es war ein Gestank, der quälende Erinnerungen in Bayard zum Leben erweckte, lange bevor die Nebel den Blick auf den Marktplatz freigaben. Hier bot das Dorf einen unsäglichen Anblick. Auf dem weitläufigen Platz entdeckten die Krieger unzählige dunkle Klumpen, die verstreut auf der Erde lagen und die nichts mit den Trümmern der Häuser gemein hatten. Schwarze Haufen waren es, große und kleine, im Feuer erstarrt wie Furcht erregende Skulpturen. Und selbst jene, die noch nie ein Brandopfer gesehen hatten, erkannten schnell, dass es sich nur um die verkohlten Überreste menschlicher Leiber handeln konnte.
Erschüttert ritten die Krieger weiter und lenkten die Pferde rücksichtvoll um das herum, was von den Bewohnern der Stadt übrig geblieben war. Die Hufe stapften durch die allgegenwärtige Asche und wirbelten mit jedem Schritt kleine Staubwolken auf, die lautlos in die Höhe stoben.
Niemand sagte etwas. Es gab keine Worte für das, was sich hier zugetragen hatte – und es gab niemanden mehr, der noch ihrer Hilfe bedurfte. Lemrik war zu einer Stätte des Todes geworden, und das graue Leichentuch aus Staub bedeckte barmherzig so manchen Anblick, den selbst ein hartgesottener Krieger nicht zu ertragen vermochte.
Alle waren froh, als der Marktplatz hinter ihnen lag, doch die unerträglichen Ausdünstungen des Todes verfolgten sie hartnäckig und nahmen an Stärke zu, je näher sie dem kleinen Hafen kamen.
Als sich die Straße schließlich teilte und dorthin verlief, wo noch am Vortag die Fischerboote vor Anker gelegen hatten, zügelte Bayard sein Pferd und winkte zwei Krieger zu sich. »Ihr reitet zum Fluss und sucht dort nach Überlebenden«, befahl er mit erstickter Stimme und fügte keuchend hinzu: »Die anderen warten hier.«
Die Krieger nickten kurz und machten sich sogleich auf den Weg. Bayard blickte ihnen voller Sorge nach. Es war nicht seine Art, andere vorzuschicken, doch diesmal hatte er keine andere Wahl. Keelin hatte seinen Falken mit der Weisung aufgelassen, das Gebiet rings um Lemrik nach Hinweisen auf Überlebende und versprengte Uzomakrieger abzusuchen. So mussten sie den Hafen selbst erkunden.
Gewöhnlich wäre Bayard selbst zum Fluss geritten, um zu erkunden, wie es dort aussah. Doch er fürchtete, dass ihn die Erinnerung erneut einholte, und wollte sich keine Schwäche erlauben. Dieses Mal musste es genügen, den Bericht der Späher abzuwarten, auch wenn er bereits ahnte, was sie dort unten vorfänden.
Die beiden Krieger kehrten überraschend schnell zurück. Sie ritten trotz des scharfen Tempos nur mit einer Hand am Zügel und pressten den freien Arm schützend auf Mund und Nase. Kaum dass sie die den Spähtrupp erreichten, zügelten sie die Pferde und saßen ab. Der eine hielt sich stumm die Hand vor den Mund, der andere erbrach sich hustend und würgend auf die Asche. Es dauerte eine Weile, bis sie endlich zu sprechen bereit waren, doch Bayard drängte sie nicht.
»Gibt es Anzeichen für Überlebende?«, fragte er leise, als die beiden sich so weit gefasst hatten, dass sie Bericht erstatten konnten.
»Keine!« Einer der Krieger hustete und würgte erneut, dem anderen gelang es jedoch, Haltung zu bewahren. »Es ist grauenvoll, furchtbar, entsetzlich«, sagte er erschüttert. »Sie haben die Menschen – so viele Menschen – in eine große Halle getrieben und …« Er hob die Arme zu einer hilflosen Geste. »Bei den Göttern, was sind das nur für Bestien!«, stieß er voller Hass hervor und fuhr mit bebender Stimme fort: »Es waren Hunderte. Darunter auch Frauen und Kinder. So viele Kinder!« Er ballte die Fäuste und presste die Lippen zusammen, als ihn die Erinnerung an
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