Das Erbe der Runen 01 - Die Nebelsängerin
geflüchtet hatten.
Der grausige Anblick verstümmelter Leichen blieb ihnen aber auch hier nicht erspart. Auf einer Weide fanden sie die zerfetzten Kadaver einer ganzen Schafherde. Die Tiere waren grausam zugerichtet. Nicht ein einziges Schaf war den mörderischen Reißzähnen entkommen, die hier gewütet hatten. Es sah aus, als hätte ein furchtbarer Dämon sein grausiges Mahl gehalten. Der pfeilgespickte Kadaver eines getöteten Lagaren, den sie nahe der Weide entdeckten, bekräftigte Bayards Vermutung, dass sich die geflügelten Echsen hier in wildem Blutrausch ergangen hatten.
Er wollte eben sein Pferd antreiben, um sich die mörderische Bestie aus der Nähe anzusehen, als ein alarmierender Laut an sein Ohr drang. Der Heermeister hielt inne und horchte, doch das Geräusch wiederholte sich nicht. »Das war ein Schrei!« Er wandte sich im Sattel um und schaute Keelin fragend an. »Wo?«
»Gemach!« Auch Keelin hatte sein Pferd anhalten lassen. Der junge Falkner hielt die Augen geschlossen und presste die Finger an die Schläfen, während er Horus auf seinem Flug begleitete. »Horus fliegt nach Westen«, murmelte er, ohne die Augen zu öffnen. »Jetzt nach Südwesten. Er lässt das Dorf hinter sich … Da ist eine Hütte, ein kleines, abgelegenes Haus … Das Dach ist zur Hälfte eingestürzt … Jetzt ist er über dem Dach … Da ist ein Loch … Gilians heilige Feder – es sind Uzoma in der Hütte … und noch etwas … jemand … Es sieht aus, als hätten sie einen Gefangenen … Eine junge Frau … Ich sehe ein Messer!«
Keelin öffnete die Augen, ließ die Hände sinken und deutete nach Westen. »Wir müssen dort entlang.« Sein Atem ging stoßweise. Obwohl er schnell gelernt hatte, Horus’ Eindrücke aufzunehmen und zu deuten, kostete es ihn noch immer viel Kraft, die Verschmelzung mit dem Falken über längere Zeit aufrecht zu halten. Aber er gönnte sich keine Atempause und folgte Bayard, der sein Pferd bereits gewendet hatte.
Bayard sah Keelin aufmerksam an. »Lagaren?«
Der Falkner schüttelte den Kopf.
»Uzoma?«
»Da drin.« Keelin nickte und deutete auf die Hütte.
»Wie viele?«
»Vielleicht zwei, vielleicht neun. Es könnten aber auch mehr sein.«
Bayard grinste schief! »Sehr aufschlussreich.« Dann zuckte er mit den Achseln. »Nun gut!« Er straffte sich und wandte sich den Männern zu, die hinter ihm Aufstellung genommen hatten. »Die Hütte zu stürmen wäre unklug«, erklärte er halblaut. »Wir schleichen uns an, nehmen zu beiden Seiten der Tür Aufstellung und werfen eine Fackel auf das Dach. Das Feuer wird sie hinaustreiben.« Mit diesen Worten langte er über die Schulter nach hinten und zog die Riemen fest, welche die Asnarklinge auf seinem Rücken hielten. Er war der einzige Kataure, der den langen, wuchtigen Zweihänder mit der gewellten Klinge zu führen vermochte. Traditionell kämpften die Katauren mit Lanzen, dem Kurzschwert oder mit leichten Bögen. Doch obwohl Bayard sich erst wenige Winter in der für sein Volk ungewöhnlichen Kunst geübt hatte, stand er den Onur im Umgang mit solchen Waffen in nichts nach.
Bayard überprüfte auch das Kurzschwert am Gürtel und wandte sich noch einmal mit gedämpfter Stimme an Keelin. »Wir kümmern uns um die Uzoma. Du holst die Gefangene aus der Hütte«, ordnete er in einem Ton an, der keine Widerrede duldete. Dann hob er die Hand zum Zeichen des Aufbruchs und bedeutete den anderen, ihm zu folgen.
In einer Linie schoben sie sich an den verbliebenen Mauerresten entlang, die ihnen nur wenig Deckung boten, kauerten sich eng an den geschwärzten Stein und bahnten sich durch Trümmer und Asche einen Weg auf die kleine Hütte zu, in der Horus die Uzoma erspäht hatte.
Das letzte Stück bis zur Tür bot ihnen keine Deckung mehr, aber niemand schien die sieben Gestalten während der bangen Augenblicke zu bemerken, die sie benötigten, um die Tür zu erreichen.
Bayard presste sich dicht an die Wand, legte warnend den Finger an die Lippen, schlich zur Tür und lauschte. Drinnen erklangen geschäftige Geräusche. Beschuhte Füße schabten über den Boden, Metall klirrte, und jemand fluchte leise. Von einer Gefangenen war nichts zu hören.
Der Heermeister gab einem der Krieger ein Zeichen, und wenig später züngelten kleine Flammen an einem Stück Holz, das mit einem ölgetränkten Lappen umwickelt war. Der Krieger deutete an, dass er bereit war, und schleuderte die Fackel in einem weiten Bogen auf das Schilfdach.
Weitere Kostenlose Bücher