Das Erbe der Runen 01 - Die Nebelsängerin
den grausigen Anblick zu überwältigen drohte. »Sie müssen furchtbar gelitten haben. Die Halle ist bis auf den Boden niedergebrannt, und darin …«
»Lass es gut sein.« Bayard nickte betrübt. Was er hörte, entsprach seinen schlimmsten Befürchtungen. Mühsam um Fassung ringend, ließ er den Rappen wenden, lenkte ihn vom Ort des Schreckens fort und entschied: »Lasst uns die Suche am Rand des Dorfes fortsetzen. Hier kommt jede Hilfe zu spät.«
Langsam glitt die stumpfe Klinge des Messers über Ajanas entblößten Arm und hinterließ eine blutige Spur auf der Haut. Sie schrie und bäumte sich auf, doch die vier Krieger, die um den Tisch standen und sie auf die harte Holzplatte pressten, hielten sie gnadenlos fest.
»Wer bist du?«, fragte Ubunut noch einmal.
»Ajana Evans!«, stieß Ajana keuchend hervor und schluchzte laut auf. Diese Frage beantwortete sie bereits zum dritten Mal, doch der Krieger schien sich auch jetzt nicht damit zufrieden zu geben, und sie fürchtete sich vor dem, was kommen mochte.
»Das ist kein Name!« Der Uzoma hielt das blitzende Messer so, dass sie es sehen musste. »Welchen Blutes Tochter bist du?«, fragte er ungeduldig.
»Ich bin vom Blute der Evans!« Ajanas Stimme überschlug sich fast vor Angst. Auch diese Frage hatte sie schon zum wiederholten Mal beantwortet, und sie wusste, dass es nicht die Worte waren, die der Krieger hören wollte. Aber es war die einzige Antwort, die sie geben konnte.
»Bei den Feuern des Wehlfangs!« Die Faust des Uzomas schloss sich um das Heft des Messers und rammte die Klinge dicht neben Ajanas Ohr in das harte Holz. »Es gibt keinen Stamm der Evans in Nymath!«, brüllte er zornig. Außer sich vor Wut hieb er mit der Faust auf die Tischplatte. Er schnaubte erregt und blickte fieberhaft hin und her, als suchte er nach etwas, woran er seine unbändige Wut auslassen konnte. Doch statt des zu erwartenden Ausbruchs wurde es im Raum plötzlich ganz still. Die eine Hand auf die Tischplatte gestützt, beugte er sich so weit über Ajanas Gesicht, dass sie die feinen roten Äderchen in seinen Augen sehen konnte. Dabei krallte er die andere Hand fest um ihre Brust, dass sie vor Schmerz aufschrie. »Entweder du bist sehr mutig oder sehr dumm«, zischte er drohend und verstärkte den Druck der Hand, um die einschüchternde Wirkung seiner Worte zu unterstreichen. »Du bist kein gewöhnlicher Humard, das fühle ich. Aber du bist auch keine Elbin. Zum letzten Mal: Wer – bist – du?«
»Ajana Evans!«, schrie Ajana unter Tränen. »Ajana Evans … Ajana Evans!« Obwohl sie wusste, dass sie den Kriegern nichts entgegenzusetzen hatte, wehrte sich verzweifelt gegen ihre Peiniger.
Über das Rauschen des Blutes in ihren Ohren hinweg hörte sie den Anführer der Uzoma fluchen und spürte, wie er das Messer ruckartig aus der Holzplatte zog. Ein Sonnenstrahl traf die blitzende Klinge, als er unheilvoll ausholte.
Ajana riss Augen auf und hielt den Atem an. Eine eisige Faust schloss sich um ihr Herz und krampfte es schmerzhaft zusammen, während es wie wild pumpte. Gleichzeitig schien sich die Zeit auf magische Weise zu dehnen.
Mit unglaublicher Langsamkeit sah sie das Messer auf sich zukommen. Dabei nahm sie jede noch so nebensächliche Kleinigkeit fast überdeutlich war. Die Klinge des Messers war blutverschmiert und von grauer Asche überzogen, der schlichte hölzerne Schaft abgegriffen und schmucklos. Die dunkle Haut der Finger war spröde und schwielig. Schwarze Haare sprossen daraus hervor. Die gelblichen Fingernägel waren lang und eingerissen …
Ein Sonnenstrahl schob sich durch eine Lücke im Dach und blendete sie für Bruchteile von Sekunden. Dann bohrte sich die Klinge in die zarte Haut ihrer Brust und hinterließ einen beißenden Schmerz. Unvermittelt riss die verzerrte Wahrnehmung ab. Die Zeit hatte Ajana wieder eingeholt, und die Welt um sie herum versank in einem gellenden Schrei.
In die bedrückende Stille des Morgens brach ein schrilles Geräusch, das die Reiter des Spähtrupps wie aus weiter Ferne erreichte. Die sieben Krieger, der Kundschafter und die Heilerin hatten die zerstörten Hütten Lemriks hinter sich gelassen und lenkten die nervösen Pferde zwischen Stallungen, Koppeln und ausgebrannten Heuschobern hindurch, die in lockerer Folge an das Dorf grenzten. Hier gab es nur vereinzelt Tote. Das eigentliche Massaker hatte unten am Fluss stattgefunden: dort, wohin sich die Menschen aus Furcht vor der Feuersbrunst
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