Das Erbe der Runen 01 - Die Nebelsängerin
hervorlugten.
»Magunk.« Mit einer anmutigen Bewegung schwang sich Inahwen aus dem Sattel und eilte der Alten entgegen. Unmittelbar vor ihr hielt sie inne und beugte ehrfürchtig das Haupt. Behutsam ergriff sie die knöcherne Hand der Alten und führte sich den Handrücken zum Gruß gegen die Stirn. »Ich bin sehr froh, dass Ihr uns gestattet, Euch aufzusuchen«, sagte sie ehrfurchtsvoll. »Wir tragen viele Fragen in unseren Herzen, von denen das Schicksal Nymaths abhängt. Fragen, die nur Ihr beantworten könnt.«
»Die von Gaelithils Blute ist und jene, die ihr folgen, sind mir willkommen«, erwiderte die Alte, hob den Kopf und blickte Ajana an. Ajana erschauerte. Es war, als ob die Alte ihr bis auf den Grund der Seele blickte, doch sie fühlte, dass nichts Böses darin lag, und verspürte keine Furcht. Auch sie saß nun ab, ging auf die Alte zu und deutete eine Verbeugung an. Hinter sich hörte sie eine Trense klirren und wusste, dass Bayard es ihr gleich tat.
»Es ist nicht viel, was ich euch an Behaglichkeit bieten kann«, sagte die Alte freundlich. »Doch wenn ihr mit einem wärmenden Feuer und frischem Quellwasser zufrieden seid, werde ich versuchen, euch das zu geben, wonach euch verlangt.« Sie hob den Wurzelholzstab, vollführte damit eine kreisende Bewegung in der Luft und wandte sich um. Als Ajana aufblickte, stockte ihr der Atem. Nur wenige Schritte entfernt, am Rande der Lichtung, stand eine moosbewachsene Hütte aus dünnen, uralten Baumstämmen, die sie vorher nicht gesehen hatte. Sie hörte, wie Bayard neben ihr überrascht aufkeuchte, und blickte zu Inahwen hinüber, doch die Elbin schien darauf vorbereitet und zeigte keinerlei Regung.
»Wir danken Euch für die Gastfreundschaft«, sagte sie höflich und folgte der Alten durch die knarrende Tür in die Hütte. Ajana ging dicht hinter ihr, Bayard aber zögerte.
»Du musst dich um die Pferde nicht sorgen«, wandte sich die Alte an den Katauren, als hätte sie seine Gedanken gelesen. »Auf dieser Lichtung wird ihnen nichts geschehen. Sie werden nicht fortlaufen.«
Bayard warf einen kurzen Blick über die Schulter auf die grasenden Tiere, dann trat auch er hinter den Frauen in die Hütte.
»Eine Geschichte also verlangt es euch zu hören«, hob die Alte zu erzählen an, als sich alle um das kärgliche Feuer in der Mitte der bescheidenen Hütte auf den Boden gesetzt hatten, und legte noch einen Holzscheit auf die Glut. Funken stoben, und das harzige Holz knisterte unter der Hitze. »Geschichten über Legenden, Legenden in Geschichten«, sinnierte sie ein wenig wirr, ohne den Blick von den tanzenden Flammen abzuwenden. »Die Geschichte dieses Amuletts ist untrennbar verbunden mit der Legende von Gaelithil, der mächtigen Elbenpriesterin. Sie war es, welche die Nebel einst als Bollwerk gegen das Böse wob, um die Menschen zu schützen und dem gestrandeten Volk der Elben vorübergehend eine neue Heimat zu geben.«
Sie hielt inne, um Atem zu schöpfen, und fuhr dann fort: »Ihr Schicksal, die Art, wie sie ihr Ende fand, und auch das, was danach folgte, die große Finsternis, ist ohne die Bedeutung des Amuletts nicht zu verstehen.« Wieder verstummte sie für eine Weile. Dann sprach sie: »Und ich muss euch von den Uzoma berichten, jenem mächtigen Volk, das einst über Nymath herrschte. Zu sehr sind die Geschichten miteinander verwoben. Ein Strang folgt dem anderen. Zupft man an einem, so ist er nichts weiter als ein unbedeutender Faden. Doch im Zusammenhang erkennt man das verschlungene Muster, welches das Schicksal wob.«
Sie machte eine bedeutungsvolle Pause und fuhr sich mit den knöchernen Fingern durch das ergraute Haar, als suchte sie nach einem losen Ende des Gewebes, mit dem sie beginnen konnte.
Ajana, Bayard und Inahwen saßen schweigend auf den bunt gewebten Matten am Feuer und warteten voller Ungeduld darauf, dass die Alte weitersprach.
»Lange Zeit, bevor Menschen und Elben den Weg nach Nymath fanden«, fuhr sie schließlich fort, »lebten hier die Uzoma. Woher sie wirklich kamen, vermag niemand zu sagen. Waren sie Flüchtlinge wie die Menschen? Gestrandete wie die Elben? Wir wissen es nicht. Wir wissen nur, dass sie den schmalen fruchtbaren Streifen zwischen dem Pandarasgebirge und dem schwarzen Ozean viele hundert Winter lang fast allein bewohnten. Sie fürchteten die zerstörerische Kraft des Meeres und errichteten ihre Dörfer fernab der Küste an den Berghängen und in den Wäldern.
Die ersten Menschen, die aus Andaurien
Weitere Kostenlose Bücher