Das Erbe der Runen 01 - Die Nebelsängerin
geworden, und die Ratsmitglieder wussten um die Abneigung, welche das Volk den fremdartig anmutenden Elben entgegenbrachte. Nicht wenige hielten sie gar für Abgesandte des dunklen Gottes, die ausgezogen waren, ihm auch die letzte Bastion der Freigläubigen zu unterwerfen.«
»Das waren schändliche Verleumdungen«, warf Inahwen ein. »Wir Elben dienen keinem Gott. Wir sind frei. Wir würden niemals . «
»Gemach, gemach«, unterbrach die Alte den Redefluss der Elbin.
»Jeder weiß, dass es sich dabei um unbegründete Ängste handelte. Doch bedenke, dass die Menschen damals unwissend waren und in ständiger Furcht lebten … Auch Gaelithil spürte diese Furcht«, nahm sie die Erzählung wieder auf »Sie hörte die Berichte über die Grausamkeiten, mit denen die Uzoma den Menschen zusetzten, und sah die Not mit eigenen Augen. Das Leid rührte sie, und sie bot den Menschen Hilfe an. Später sagte man ihr nach, sie habe nicht ganz uneigennützig gehandelt. Man munkelte, sie habe das Bleiberecht für ihr Volk als Lohn für diese Hilfe gefordert. Doch dafür gibt es keinerlei Beweise, und es ist ebenso möglich, dass auch dies nur üble Nachrede war. Eines ist jedoch sicher: Nachdem Gaelithil Nymath den Frieden gebracht hatte, siedelten die Elben in den von den Uzoma verlassenen Wäldern.«
»Was willst du damit sagen?«, stieß Inahwen empört hervor, die es nur schwer ertragen konnte, wenn die Beweggründe jener edelmütigen Tat in Frage gestellt wurden, für die Gaelithil letztlich ihr Leben ließ.
»Ich berichte nur, was ihr zu erfahren wünscht«, erklärte die Alte ungerührt. »Nicht mehr und auch nicht weniger. Ich maße mir nicht an, über Taten vergangener Zeiten zu richten. Und es liegt an euch, welchen Nutzen ihr meinen Worten entnehmt.« Sie maß Inahwen mit einem langen, eindringlichen Blick aus ihren trüben Augen, bis diese beschämt zu Boden sah.
»Vergebung«, murmelte sie leise. »Die Worte klingen seltsam für mich. Mein Vater ist gestorben für einen Kampf, der nicht der unsere ist, und ich …«
Die Alte nickte versöhnlich. »Ich fühle, was dich bewegt«, sagte sie bedächtig. »Doch nun hört, wie Gaelithil jene Tat vollbrachte, die die Vereinigten Stämme Nymaths für viele hundert Winter in Frieden leben ließ. Elben sind von Natur aus ein friedliebendes Volk, und so suchte sie nach einem Weg ohne Blutvergießen. Als Tochter der Herrin der alten Wälder war ihr jedes Leben heilig. Daher hätte sie es niemals ertragen, das Volk der Uzoma in einem von Elbenmagie unterstützten Feldzug zu vernichten. Viele Silbermonde vergingen. Monde, in denen Gaelithil zu verstehen suchte, was die fremde Welt bewegte – Monde, in denen die Elben in Sanforan geduldet wurden.
Gaelithil sah und hörte viel, doch sie war weise genug, keine voreiligen Schlüsse zu ziehen. Als der Lenz den Winter vertrieb, trat sie schließlich vor den Hohen Rat. Sie führte ein kostbares, runenverziertes Schmuckstück mit sich, das der Silberschmied der Elben den langen Winter über geschaffen hatte. Es war ein in Silberfäden gefasster Mondstein – ein Stein von erhabener Schönheit, wie es keinen zweiten gab und wie ihn auch vor den Elben keiner in diesem Lande gesehen hatte. Er wurde von kleinen silbernen Blättchen umrahmt, die aussahen wie Blütenblätter.
Die Mitglieder des Rates staunten, als sie hörten, dass eben jenes Schmuckstück Nymath den Frieden bringen sollte. Glaubte man Gaelithils Worten, so würde dieser Frieden sogar noch völlig unblutig errungen.
Einige Ratsmitglieder verhöhnten die Elbenpriesterin und nannten sie eine Betrügerin, doch Gaelithil ließ sich nicht beirren und legte geduldig ihren Plan dar.
Die Winde sollten den Uzoma eine Botschaft zutragen, die aus Elfenmagie gewoben war, und sie dazu aufrufen, über das Pandarasgebirge in die nördliche Ebene zu ziehen. Dort, so würde ihnen eine geisterhafte Stimme zuwispern, sollten sie der Ankunft ihres obersten Gottes harren, der nach einer alten Uzomalegende alle eintausend Sommer auf der Erde erschien, um dem Volk neue Gebote zu verkünden. Diese Legende wollte sich Gaelithil zu Nutze machen, um alle Angehörigen des feindlichen Stammes in das Land jenseits des Arnad zu locken.«
»Alle?«, warf Ajana staunend ein. »Auch die Kinder und die Alten?«
»Auch die Kinder und die Alten.« Die Alte nickte. »Die Uzoma sind ein strenggläubiges Volk. Die Legende von der Heimkehr ihres Gottes bildet das Herzstück ihres Glaubens. Jeder Uzoma
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