Das Erbe der Runen 01 - Die Nebelsängerin
wanderte damals einmal in seinem Leben an den Rand der großen Wüste zu einem einsamen roten Felsen, der sich wie ein Torbogen über der flachen, sandigen Ebene erhebt, um dort Läuterung zu erfahren. Unter diesem Bogen, so heißt es in der Legende, werde das Abbild des Gottes erscheinen und zu den Uzoma sprechen.«
»Und, ist ihr die Täuschung gelungen?«, fragte Ajana.
»O ja.« Die weise Frau nickte bedächtig. »Als die Monde über Nymath sich rundeten, bestieg Gaelithil den Hügel der gespaltenen Eiche und wob die Botschaft von der nahen Ankunft des Uzomagottes in den Nachtwind. Elbenmagie trug die Stimme der Priesterin bis in die entlegenste Hütte, und die Uzoma machten sich voller Ehrfurcht auf, um ihrem Gott zu huldigen.
Sie ahnten nichts von Gaelithils List und strömten in Scharen über den großen Pass des Pandarasgebirges. Männer und Frauen, Kinder und Alte. Ganze Sippen verließen Nymath, um das Wunder der Ankunft mit eigenen Augen zu erblicken und die Gnade ihres Gottes zu empfangen. Wie ein Strom ergossen sie sich in das flache Land jenseits der Berge, wo sich das dunkle Band der Wanderer vom Fuße des Pandaras bis zu den Ufern des Arnad erstreckte.
Nachdem die letzten Uzoma den Arnad überquert hatten, jenen mächtigen Strom, der in den Tiefen des Pandarasgebirges entspringt und weit im Westen als gewaltiger Wasserfall in den glühenden Schlund des Wehlfang-Grabens stürzt, trat Gaelithil an die Ufer des Arnad, hob die Arme den Sternen entgegen und wob singend einen mächtigen Zauber. Mit einem Lied, dessen Worte älter sind als das Volk der Elben, beschwor sie Kräfte, die weiter in die Erde hinabreichten als die Wurzeln des heiligen Waldes in der alten Heimat. Mit Hilfe des magischen Amuletts rief sie die Elemente an und erschuf so einen mächtigen Nebel, der den Blick auf das jenseitige Ufer verhüllte. Es war ein Nebel wider die Natur, so undurchdringlich und unzerstörbar, dass er selbst der Hitze der Wüste trotzte. Doch damit nicht genug. Um die Uzoma für alle Zeit von den Menschen fern zu halten, verwob sie mächtige Magie in den Nebel. Magie, die jedem beseelten Wesen, das in den Nebel tauchte oder ihn berührte, einen schrecklichen Tod brachte. Magie, die jedem lebenden Wesen die Seele raubte und den Körper als leere Hülle zurückließ.« Die Alte verstummte. Den Blick weit in die Ferne gerichtet, starrte sie in die Flammen des Feuers, als sähe sie dort Bilder längst vergangener Zeiten – grauenhafte Bilder, die sich abgespielt hatten, als die Uzoma am jenseitigen Ufer erkannt hatten, dass ihnen eine Falle gestellt worden war, und sie auf eilig zusammengezimmerten Flößen vergeblich versucht hatten, in ihre Heimat zurückzukehren.
Der Feuerschein zeichnete düstere Schatten auf ihr Gesicht, und die gespenstischen Todesschreie der sterbenden Uzoma schienen wie aus weiter Ferne in die Hütte zu dringen.
»Niemals zuvor und niemals wieder hatte ein Elb solche Macht heraufbeschworen und niemals eine solche Schuld auf sich geladen. Gaelithil wollte den Krieg unblutig beenden, doch als sie die gellenden Schreie der Sterbenden durch die Nebel hörte, weinte sie bitterlich. Nicht nur um jene, die in den Nebeln des Arnad umkamen, sondern auch um jene, die durch ihr Handeln die Heimat verloren hatten. Aber sie weinte auch um sich selbst und trauerte um die Toten und Verbannten, als wären es Freunde. Dennoch zweifelte sie nicht, das Richtige getan zu haben. Der Krieg war beendet.
Der Nebelzauber schwächte Gaelithil, doch ihr Wille zu überleben war mächtiger als jeder Schmerz, denn sie hatte die Nebel an ihr Leben gebunden. Sollte sie sterben, würde auch die Magie der Nebel vergehen, und die Uzoma könnten nach Nymath zurückkehren. Verbissen kämpfte sie gegen Fieber und Auszehrung, und es dauerte lange, bis sie die schwere Zeit nach ihrer Tat überwunden hatte.
Die Menschen feierten sie als Heldin und gestatteten den Elben nun großzügig, in den dichten Wäldern am Fuße des Pandarasgebirges zu siedeln, bis der wandernde Stern erneut am Himmel auftauchen würde. Und nicht nur das. Zum Dank für die erwiesene Treue versprach man dem Volk der Elben, ihnen ein prächtiges Schiff zu bauen, wenn die Zeit des Sterns nahte. Seit dem furchtbaren Unwetter, dem auch die Schiffsbauer der Elben zum Opfer gefallen waren, gab es keinen mehr unter ihnen, der dieses Handwerks kundig war. Und so begab es sich, dass die Elben heimisch wurden in Nymath.
Es war der Beginn einer friedlichen Zeit.
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