Das Erbe der Runen 01 - Die Nebelsängerin
eindeutig aus ihrer Welt, und sie war fest entschlossen, ihn zu fragen, wie sie dorthin zurückkehren konnte. Noch zehn Meter …
»Ajana, halte ein!« Trabender Hufschlag ertönte hinter ihr, als Inahwen zu ihr aufschloss. Obwohl die schmale Gasse kaum Platz für zwei Pferde bot, schob sich ihr Rappe so weit an dem Falben vorbei, dass die Elbin nach dessen Trense greifen konnte, um ihn zum Stehen zu bringen. »Ajana!«, stieß sie ärgerlich hervor. »Bist du von Sinnen? Bayard wartet auf uns. Wir haben keine Zeit für Ausflüge.«
»Lasst bitte los. Ich muss zu ihm.« Ajana zerrte energisch an den ledernen Zügeln, doch die Elbin gab nicht nach. Der Falbe schnaubte ungehalten, zuckte mit den Ohren und schabte mit den Hufen nervös auf dem Pflaster. »Bitte!«, flehte Ajana und schaute Inahwen eindringlich an. »Ich wollte keinen Ausflug machen. Ich muss mit dem Mann dort sprechen.«
»Mit welchem Mann?« Die Elbin sah sich verwundert um.
»Mit ihm dort an der Hauswand. Sieh doch, da vorn!« Ajana deutete in die Gasse hinein.
»Da ist niemand.« Inahwen blickte in die angegebene Richtung, ließ die Trense aber nicht los.
»Aber gerade eben …« Ajana sah zum Hauseingang hinüber. Der Mann war fort.
In dem Augenblick, da Inahwens Fragen sie abgelenkt hatten, war er verschwunden. Und nichts deutete darauf hin, dass er jemals an der Wand gelehnt hatte.
»Das … das ist unmöglich!« Ajana wollte es nicht glauben.
»War es ein Krieger?«, fragte Inahwen.
»Nein, ein Mann in einem schwarzen Mantel und mit einem schwarzen Hut.« Nur mühsam gelang es Ajana, eine feste Stimme zu bewahren.
Die Elbin maß die junge Frau mit einem Blick, als bezweifelte sie deren Verstand. »Fühlst du dich nicht wohl?«, fragte sie besorgt.
»Doch, schon!« Noch einmal spähte Ajana in die Gasse, aber die Schatten waren schwarz und düster und gaben nichts von dem preis, was sich in ihnen verbergen mochte.
»Ajana …«Inahwen ließ nun endlich die Trense los. »Ich vermag sehr wohl zu sehen, wo du nur Dunkelheit erkennst«, sagte sie in einem mütterlichen Tonfall. »Die Gasse ist leer. Sie ist leer, und sie war leer.«
»Aber ich …«
Inahwen lächelte nachsichtig. »Manchmal gelingt es den Gedanken, unsere Wünsche zu Bildern zu formen«, erklärte sie. »Meist geschieht dies in unseren Träumen. Doch wenn die Not sehr groß ist, können sie auch die Wirklichkeit beeinflussen.«
»Aber das war keine Einbildung«, versicherte Ajana. Ein trotziger Unterton schwang in ihrer Stimme mit, denn sie wusste, dass sie der Elbin den Beweis dafür schuldig blieb.
Inahwen bedachte sie mit einem langen, schwer zu deutenden Blick, dann wendete sie den Rappen und führte ihn wieder auf die breite, belebte Straße zurück. »Komm«, sagte sie und machte eine auffordernde Geste. »Man erwartet uns.«
Die Tür zu dem niedrigen Gebäude stand weit offen, als Inahwen und Ajana ankamen. Die beiden Frauen schwangen sich vom Pferd und übergaben die Tiere einem Stallburschen. Inahwen wies ihn an, sie gut zu versorgen, dann betraten sie den großen, spärlich eingerichteten Raum, der den gleichen düsteren Eindruck erweckte wie schon am Morgen. Die flackernden Öllampen an den Wänden spendeten nur wenig Licht, und der fünfarmige Leuchter gereichte gerade dazu, die Gesichter der drei Männer zu erhellen, die um den Tisch Platz genommen hatten.
»Endlich.« Bayard erhob sich und trat auf die Frauen zu. »Was hat Euch so lange aufgehalten?«
»Das geschäftige Treiben in den Straßen machte uns das Vorankommen schwer«, erklärte Inahwen ausweichend. »Habt Ihr Gathorion schon berichtet?«
»Nein, noch nicht.« Bayard schüttelte den Kopf. »Ich wollte nicht ohne Euch beginnen.«
»Gut.« Inahwen bedeutete Ajana, sich zu setzen, und zog sich einen Stuhl heran. Schweigend rückte sie zu den Männern auf und warf einen kurzen Seitenblick auf Toralf, dessen Anwesenheit sie offenbar überraschte.
Gathorion schien die Gedanken seiner Schwester zu erraten. »Er weiß Bescheid«, sagte er knapp.
Inahwen nickte und erwiderte: »Gut. Dann sollten wir nicht länger säumen.«
»Gaelithil erwartet dich. Das Schicksal Nymaths liegt in deinen Händen.« Nachdenklich rieb sich Gathorion das Kinn, während er die Worte der Magun wiederholte. »Dann ist es also wahr.« Er verstummte, bedachte Ajana mit einem langen Blick und sagte: »Es ist kein leichter Weg, der vor dir liegt. Doch es ist der einzige, um das zu erreichen, wonach dein Herz sich
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