Das Erbe der Runen 03 - Die Schattenweberin
Augenblick.
»Abbas?« Ihre Lippen rissen auf und bluteten, als sie seinen Namen rief. Besorgt richtete sie sich zum Sitzen auf und schaute sich um. Die Sonne stand schon tief. Es war immer noch drückend heiß, aber ein leichter Wind kündete von der nahenden Abkühlung.
Ihre Stute stand im Schatten, ließ den Kopf hängen und wartete auf die Kühle der Nacht. Von Abbas fehlte jede Spur.
»Abbas?« Ajana rief lauter, aber niemand antwortete. Abbas war fort. Alarmiert schaute sie nach dem Wasserschlauch und zuckte erschrocken zusammen. Er war nicht mehr dort, wo sie ihn zuletzt gesehen hatte. Da fiel ihr Blick auf etwas Dunkles, das unmittelbar neben ihr im Sand lag. Sie hob es auf und sog die Luft scharf durch die Zähne. Es war der Wasserschlauch, und er war immer noch halb gefüllt!
Mit einem Satz war sie auf den Beinen.
»Abbas!« Ihr verzweifelter Ruf gellte durch die Stille. Den Schlauch mit dem kostbaren Wasser fest in der Hand, hetzte sie den schattigen Hang hinauf. Aber wohin sie auch blickte, war nichts als Sand und Dünen. Außer sich vor Sorge lief sie den Hang an der anderen Seite hinunter, um stolpernd und kriechend den steilen Dünenkamm hinter der Senke zu erklimmen.
»Abbas?« Ihre Stimme war nur mehr ein Krächzen. Kummer und Furcht schnürten ihr die Kehle zu. Sie ahnte, dass etwas Schreckliches geschehen war. Abbas hatte das Wasser zurückgelassen und war verschwunden. Er hatte weder das Pferd noch das kostbare Nass mitgenommen. Das konnte nur eines bedeuten …
Ajana beschattete die Augen mit der Hand und schaute sich um.
Dann sah sie ihn.
Abbas lang regungslos im Sand. Die Augen geschlossen, das Gesicht bleich und leblos.
»Abbas!« Ajana rannte zu ihm und kniete neben ihm nieder. Ihr Atem ging schnell, ihr Herz raste. Was sollte sie nur tun?
Zaghaft fasste sie ihn an der Schulter und rüttelte ihn, aber er rührte sich nicht. Panik stieg in ihr auf.
Wasser, er musste Wasser haben! Hektisch öffnete sie den Stopfen der Wasserflasche, bettete seinen Kopf auf ihr Bein und benässte seine Lippen.
»Trink!«, feuerte sie an. »Nun trink doch endlich.« Aber Abbas trank nicht. Das Wasser rann über seine staubigen Wangen und versickerte nutzlos im Sand.
»Bitte! Bitte, trink.« Ajana spürte, wie ihr die Tränen kamen. In ihrer Verzweiflung öffnete sie seine Lippen mit den Fingern und goss ihm das Wasser direkt in den Mund – vergeblich.
Ajana schluchzte auf. Sie musste doch etwas tun können – irgendetwas!
Dann war der Schlauch leer.
Wütend schleuderte sie ihn fort und tastete mit den Fingern nach dem Plus an Abbas Hals.
Nichts.
Zu spät , wisperte die Stimme in ihr. Du kommst zu spät.
Aber Ajana wollte davon nichts wissen. Mit zitternden Fingern öffnete sie sein Gewand, um ihm Luft zu machen – und erstarrte. Es war dunkel verfärbt und glänzte feucht.
Blut!
Angezogen von dem Geruch, näherten sich die ersten Aasfliegen.
»Weg!« Ajana kreischte auf »Weg mit euch!« Mit hektischen Handbewegungen versuchte sie die Fliegen zu vertreiben. Doch die beachteten sie nicht und labten sich ungestört an der blutigen Wunde.
»Nein!« In hilfloser Wut hieb Ajana die Faust in den Sand. Sie wagte nicht, das Gewand weiter zu öffnen und verachtete sich selbst für ihre Schwäche.
Dann sah sie das Messer. Es lag auf dem Boden neben Abbas’ halb geöffneter Hand, die Klinge von geronnenem Blut verschmiert.
»Oh, du dummer, dummer Esel!« Ajana schluchzte auf.
Besser ein schnelles Ende, als elendig verdursten.
Die Worte, die Abbas zu ihr gesagt hatte, nachdem er sein Pferd verloren hatte, kamen ihr wieder in den Sinn. Er musste gewusst haben, dass sie Andaurien nicht gemeinsam erreichen konnten. Um sie zu retten, hatte er sein Leben gegeben und für sich das schnelle Ende gewählt. Sie kam zu spät. Kein Wasser dieser Welt würde ihn je ins Leben zurückholen können.
Die Erkenntnis war mehr, als Ajana ertragen konnte. Kraftlos sank sie neben dem Leichnam in den Sand.
»Das habe ich nicht gewollt!«, schluchzte sie, als könne Abbas die Worte noch hören. »Ich wollte dich doch schon lange zurückschicken, aber du dummer Esel hast dich immer geweigert zu gehen. Dabei habe ich es doch nur gut gemeint. Ich wollte dich schützen … wollte verhindern, dass es so endet.«
Ajana krümmte sich vor Kummer und Schmerz. Viel mehr noch als bei Maylea und Bayard trug sie die Verantwortung für Abbas’ Tod, für sein selbstloses Opfer. Indem sie ihm verschwiegen hatte, dass sie
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