Das Erbe der Runen 03 - Die Schattenweberin
Horizont undeutlich eine dunkle Linie über dem roten Sand der Nunou abzeichnete. Auch dieser Anblick war verschwommen, und sie war sich nicht sicher, ob sie ihren Augen noch trauen konnte.
War es wirklich Andaurien? Oder eine Illusion, die ihr die gemarterten Sinne vorgaukelten?
Sie ballte die Fäuste. Es muss Andaurien sein, dachte sie. Es muss!
Ajana spürte, wie sich ihr Herz bei dem Gedanken zusammenkrampfte. Andaurien war so nah. So nah und doch so unendlich weit entfernt. Zum ersten Mal kam ihr der Gedanke, dass sie ihr Ziel vielleicht niemals erreichen würde. Nicht mit nur einem Pferd, nicht in diesem Zustand, nicht ohne … Wasser.
Ihr Blick wanderte zu Abbas, der in einen erschöpften Schlaf gesunken war. Neben ihm lag ein noch halb gefüllter Wasserschlauch.
Wasser!
Ajana spürte, wie die Gier in ihr übermächtig wurde. Ihr Atem ging flach und stoßweise, die Hände zitterten. Auf allen vieren kroch sie auf Abbas zu, während sie sich in Gedanken ausmalte, wie es sein würde, das köstliche Nass durch die Kehle rinnen zu lassen.
Mein Wasser!
Gierig streckte sie die Hand aus, um den Wasserschlauch an sich zu nehmen.
Nein! Ein Rest von Vernunft flammte hinter ihrer Stirn auf und hielt sie zurück. Verzagt setzte sie sich neben Abbas in den Sand und presste sich die Faust in den Mund. Das Wasser gehörte dem Wunand. Auch er dürstete.
»Ich darf es nicht. Ich darf es nicht.« Sie bewegte sich wiegend hin und her, während sie die Worte in einer Art Singsang vor sich hin murmelte, als könne sie den Wahnsinn damit aufhalten, der sie zu überwältigen drohte.
Dieses Wasser war es, das über Leben und Tod entschied. Der Vorrat mochte genügen, damit einer von ihnen … damit sie sicher nach Andaurien gelangte.
Ich!
Ich allein!
Mein Wasser!
Meine Rettung!
Ajana atmete heftig.
Es war so leicht, so einfach. Sie musste nur den Schlauch an sich nehmen und …
Nein!
Ajana zuckte zusammen, als sich die Stimme der Vernunft noch einmal über die Gier erhob. Als hätte sie sich verbrannt, riss sie die Hand zurück, die sich wie von selbst auf Abbas’ Trinkflasche zubewegt hatte. Schuldbewusst zog sie die Beine an den Körper und schlang die Arme darum, als könne sie sich auf diese Weise vor weiteren Versuchungen schützen.
Wie konnte ich mich nur so gehen lassen?, dachte sie voller Reue und fragte sich, wie weit sie dem Wahnsinn wohl schon verfallen war. Dreimal war sie in der Nacht im Sattel eingeschlafen. Allein Abbas, der immer rechtzeitig zur Stelle gewesen war und sie aufgefangen hatte, war es zu verdanken, dass sie nicht vom Pferd gefallen war.
Und ich denke daran, ihm das Wasser zu stehlen. Ajana verabscheute sich für ihre ehrlosen Instinkte. Dennoch gelang es ihr nicht, die säuselnde Stimme in sich zum Schweigen zu bringen, die ihr auch jetzt noch zuflüsterte, dass sie Andaurien nur allein erreichen konnte.
Lass ihn zurück , wisperte es in ihren Gedanken. Er ist nicht wichtig … nicht wichtig …
»Nein!« Ajana hielt sich die Ohren zu, aber die Stimme gab keine Ruhe.
Nimm sein Wasser … Nimm es … Nimm es!
Ajana schluchzte auf, krallte die Finger in ihre Haare und presste die Lippen fest aufeinander. Sie wollte das nicht denken und schon gar nicht so handeln. Sie wollte doch nur überleben.
Und wenn Abbas ähnlich denkt?
Wie von selbst stahl sich der Gedanke in ihr Bewusstsein und schürte das Misstrauen in ihr. Vielleicht stellte er sich nur schlafend, in der Hoffnung, dass sie irgendwann einschliefe. Ajana hielt den Atem an. Argwöhnisch blickte sie auf den jungen Wunand hinab.
Und wenn er mich bestiehlt? Wenn er das Wasser an sich nimmt und mit dem Pferd nach Andaurien flieht?
Erst vorsichtig, dann fester berührte sie ihn an der Schulter und rüttelte ihn.
Abbas rührte sich nicht, er schlief.
Oder tat er nur so?
Die Sonne stieg immer höher. Die Hitze wurde unerträglich. Abbas lässt mich nicht im Stich. Mit dem letzten Rest ihrer Vernunft klammerte sich Ajana an diesen Gedanken. Er reitet nicht ohne mich fort. Das würde er niemals tun.
Wenn er erwacht, werden wir das Wasser teilen.
Mit einer enormen Willensanstrengung gelang es ihr, die Gier zu unterdrücken und den Blick von dem Wasserschlauch zu lösen. Ich darf ihn nicht zurücklassen, dachte sie bei sich. Mit der Schuld an seinem Tod könnte ich niemals weiterleben.
Sie streckte sich im Sand aus und atmete tief durch. Um sich abzulenken, holte sie noch einmal das Amulett hervor. Vielleicht hätten wir
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