Das Erbe der Runen 03 - Die Schattenweberin
feinen Sinnen nahm die Katzenfrau hinter der Furcht auch ein tiefes Mitgefühl wahr, das beide wohlverborgen für sie hegten.
Die Erschütterungen im Boden zeigten ihr, dass die Heilerinnen an ihr Lager traten. Die Felis biss die Zähne in Erwartung neuerlichen Schmerzes zusammen. Sie wusste, was kommen würde. Jeden Tag – zumindest vermutete sie, dass es jeden Tag war – vollzogen die Heilerinnen das gleiche Ritual: Sie entfernten die Verbände, um die Verletzungen zu begutachten.
»Nun, wie sieht es aus?« Wie immer war es die Ältere, die die Frage stellte.
»Die kleineren Schnitte sind schon fast verheilt.« Aufrichtiges Erstaunen schwang in den Worten der Jüngeren mit. »Es ist unglaublich, wie schnell die Wunden sich schließen. Ein Mensch wäre längst daran gestorben.«
»Ja, die Felis ist zäh«, sagte die Ältere. »Wir können von Glück sagen, dass es so ist. Unser Leben hängt davon ab, dass sie …«
Wieder wurde die Tür geöffnet, und eine bösartige Aura flutete in den Raum.
Die Felis überlief es eiskalt. Sie hatte diese Aura schon oft gespürt und gelernt, sie zu fürchten. Es war die Aura eines Menschen, dessen Handeln von Hass und Machtgier bestimmt wurde, so dunkel und böse, wie die Felis nie zuvor etwas empfunden hatte – die Aura der Hohepriesterin.
»Nun, wie sieht es aus?«, hörte sie die Hohepriesterin fragen. Ihre Stimme war wohlklingend, aber streng und befehlsgewohnt.
»Sie wird durchkommen.« Tiefe Demut schwang in den Worten der älteren Heilerin mit und eine Furcht, die sehr viel tiefer saß als die Furcht vor der Felis.
»Gut, sehr gut.« Das erdrückende Gefühl der Bosheit nahm der Felis fast den Atem, als die Hohepriesterin an ihr Lager trat und sich über sie beugte.
»Du bist nicht unsterblich!«, raunte die Hohepriesterin ihr zu. »Nur noch wenige Nächte, dann werde ich dem Mythos deines Volkes ein für alle Mal ein Ende bereiten. Tausende werden sehen, wie du stirbst, und erkennen, dass niemand dem Einen ungestraft die Stirn bietet.«
Die Felis fauchte und wand sich in ihren Fesseln. Doch der Versuch, sich zu befreien, scheiterte kläglich.
»Wunderbar. Ich wusste, dass du mich verstehst«, spottete die Hohepriesterin. »Aber die Gegenwehr wird dir nichts nützen. Du wirst sterben.« Sie trat ein paar Schritte zurück, drehte sich dann aber noch einmal um und sagte: »Ach, und mach dir keine Hoffnungen. Auch die Schwestern deines Blutes werden nicht verhindern können, dass du stirbst. Wir sind vorbereitet.« Ihre Stimme wurde streng, als sie sich wieder an die Heilerinnen wandte. »Ich will, dass sie den Weg über den Platz auf eigenen Beinen zurücklegt«, verlangte sie, und es klang wie ein Befehl. »Sie muss stark und stolz wirken. Auf keinen Fall darf es so aussehen, als ob wir sie schon vorher halbtot gefoltert hätten.«
»Wir werden tun, was in unserer Macht steht, Herrin.« Wieder war es die Ältere, die unterwürfig antwortete. Die Jüngere brachte vor Angst kein Wort heraus.
Die Hohepriesterin verließ den Raum und nahm die Aura des Schreckens mit sich fort. Nur noch wenige Nächte, hatte sie gesagt. Die Worte sollten die Furcht der Felis weiter schüren, doch das taten sie nicht. Wenige Nächte waren mehr, als sie zu hoffen gewagt hatte. In wenigen Nächten konnte viel geschehen.
Auch die Heilerinnen entspannten sich. Schweigend nahmen sie ihre Arbeit wieder auf und wechselten die Verbände – ein Vorgang, der der Felis inzwischen wohlvertraut war. Dem Schmerz, der das Lösen der Verbände begleitete, folgte eine angenehme Kühle, als die Frauen erneut lindernde Salben auf die Wunden auftrugen.
Diesmal jedoch spürte die Felis dabei noch etwas anderes, das ihre Lebensgeister weckte und ihr neue Hoffnung gab. Es war die sanft vertraute Berührung ihres Geistes, auf die sie schon so lange gewartet hatte, jene ureigene stumme Art, in der die Felis sich untereinander zu verständigen pflegten. Das Gefühl spendete ihr Trost, machte ihr Mut und ließ ihr Herz höher schlagen. Es war eine wortlose Botschaft voller Hoffnung, die ihr sagte: »Wir sind da!«
Die Beratung verlief hitzig.
Ajana war von der Aussicht, ein Boot nehmen zu können, geradezu begeistert, aber Kruin weigerte sich beharrlich, das Angebot anzunehmen. Er konnte sich nicht vorstellen, dass die Dorfbewohner Inahwen wirklich für eine Priesterin hielten, und vermutete dahinter eine List, die nur darauf abzielte, in den Besitz ihrer Pferde zu
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