Das Erbe der Runen 03 - Die Schattenweberin
habe ihn gesehen. Er hat sich das Leben genommen, weil ich …« Sie schluchzte erneut und fügte hinzu: »Meine Mutter hat ihn gefunden.«
»Ajana, das war ein Traum«, erklärte Keelin nachdrücklich. »Es sind deine Sorgen und Ängste, die sich des Nachts in deine Gedanken schleichen. Nichts davon ist wahr.«
Ajana antwortete nicht. Mit dumpfem Blick starrte sie in die einsetzende Dämmerung, während die Sonne langsam höher stieg und das Leben im Wald erwachte. Das feuchte Laub fing an zu dampfen. Dünne Nebelschleier bildeten sich über dem Fluss und krochen zwischen den Pfählen hindurch, auf denen die Häuser thronten. Ein Tagara schickte seinen melodischen Sonnengruß in den Wald hinaus, und irgendwo im fernen Dickicht der Baumkronen ertönte wie zur Antwort die Stimme eines weiteren.
Rings um das erloschene Feuer regten sich die anderen.
Keelin fühlte, dass Ajana sich entspannte, wartete jedoch, bis sie wieder zu sprechen bereit war. Voller Wärme dachte er zurück an die vergangene Nacht. Doch das Hochgefühl, das er empfunden hatte, stellte sich nicht mehr ein, denn an diesem Morgen wusste er mehr denn je, dass er Ajana verlieren würde.
»Ich komme zurück!« Als hätte Ajana seine Gedanken gelesen, wandte sie sich ihm zu. In ihren Augen standen Tränen, und er erkannte, dass auch sie an die wunderbaren Gefühle zurückdachte, die sie miteinander geteilt hatten.
»Ich komme zurück – irgendwie«, beteuerte sie noch einmal, und es klang wie ein Schwur. »Aber ehe ich hier mit dir leben kann, muss ich Klarheit haben. Die Ungewissheit würde mich ewig quälen.«
»Ich weiß.« Keelin bemühte sich, gefasst zu klingen. Er hob die Hand, strich ihr eine blonde Strähne aus der Stirn und sagte: »Ich werde auf dich warten.« Gern hätte er noch etwas hinzugefügt, aber Kruin war aufgestanden und kam auf sie zu.
»Der Augenblick der Abschieds naht«, sagte der Uzoma mit einem ungewohnten Anflug von Schwermut in der Stimme zu Ajana. »Da ich nicht mit Euch komme, trennen sich unsere Wege hier. Doch ehe alle im Aufbruch sind, möchte ich nicht versäumen, Euch für den Rest der Reise alles erdenklich Gute zu wünschen. Mögen Eure Götter schützend die Hand über Euch halten und Euch leiten, damit Ihr findet, wonach Euer Herz sich sehnt.«
»Danke.« Ajana stand auf. Für einen Augenblick hatte Keelin das Gefühl, sie wolle den Stammesfürsten umarmen, so wie es in ihrer Welt üblich war. Doch sie besann sich und nickte Kruin zu. »Ich habe dir viel zu verdanken«, sagte sie aufrichtig. »Ohne deine Hilfe hätte ich den Wnutu und auch Andaurien niemals erreicht. Ich hoffe, du kommst gesund nach Nymath zurück.«
»Kein Sorge.« Kruin lächelte. »Ich habe schon Schlimmeres überstanden.« Er suchte nach Worten – unsicher, wie er fortfahren sollte, dann sagte er: »Ich wähne mich stolz und glücklich, Euch gekannt zu haben. Sowohl die Reise zum Wnutu als auch diese werden in die Legenden der Uzoma eingehen.«
»Ein schöner Gedanke, schon zu Lebzeiten eine Legende zu sein.« Ajana lächelte und reichte dem Stammesfürsten die Hand. »Pass gut auf die Pferde auf«, sagte sie. »Und danke für alles.«
Wenig später waren die Boote bereit. Der Stammesälteste hatte die beiden größten Einbäume für die Reise ausgewählt und sie mit Vorräten beladen lassen.
Auf Inahwens Bitte hin hatte er Ajana, Aileys, Keelin und ihr selbst neue Gewänder im Tausch gegen die staubigen und von der langen Reise unansehnlich gewordene Kleidung gegeben. Die weit geschnittenen und locker gewebten Tuniken aus hellen Pflanzenfasern trugen sich ungewohnt. Doch jedem war klar, dass die Kleidung aus Nymath viel zu auffällig gewesen wäre.
Ajana sammelte ihre Habseligkeiten ein und setzte sich vor Keelin in eines der beiden Boote. Inahwen und Aileys stiegen in das andere.
»Habt Dank für eure Hilfe«, hörte sie Aileys zu Nanala sagen, die im Gegenzug den untertänig vorgetragenen Wünschen des Ältesten für eine erfolgreiche Reise Ausdruck verlieh. Kruin winkte ihnen zum Abschied zu, dann stießen drei kräftige Krieger die Boote mit Schwung vom Ufer fort und in die Mitte des Flusses. Die Strömung nahm sie auf, trug sie mit sich fort, und bald schon blieb das Dorf hinter einer Flussbiegung zurück.
***
»Dreißig tote Streiter?« Aufgebracht schritt Vhara vor dem Kommandanten des Straßenpostens und dem Ajabani auf und ab. Ihr Gesicht war zorngerötet. »Dreißig? Und nicht einer blieb am
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