Das Erbe der Runen 03 - Die Schattenweberin
sich hinreißen lassen und aus Wut und Enttäuschung einen Menschen getötet. So wie es fast immer geschah, wenn sie zornig wurde.
Die Menschen in Andaurien hatten diesen Zorn schon häufig zu spüren bekommen, seit sie die Macht im Tempel innehatte. Anders als ihre schwächliche Vorgängerin, die sich lieber mit ihren jungen Gespielen im Lustgarten vergnügt hatte, statt mit aller Härte gegen die Streiter Callugars vorzugehen, hatte sie entschlossen durchgegriffen und jeden mit dem Tod bestraft, der auch nur den Verdacht des Verrats auf sich zog – ein Vorgehen, das schnell für Ruhe und Ordnung im Umkreis des Tempels gesorgt hatte.
In nur drei Mondwechseln hatten die Menschen ihre Lektion gelernt und aufs Neue Opfergaben zu den Blutaltären gebracht. Sie hatte erreicht, was ihre Vorgängerin in fünf Wintern nicht hatte bewerkstelligen können.
Die Untätigkeit war es auch gewesen, die ihre Vorgängerin am Ende das Leben gekostet hatte. Aus Zorn über ihr Versagen hatte der Eine ihr den Schutz gegen das Feuer entzogen, während sie in den Flammen des Tempels zu ihm gebetet hatte. Ein grausames, aber nicht ungewöhnliches Ende für eine Hohepriesterin.
Der Gedanke ließ Vhara erschauern.
Auch sie hatte schon versagt.
Weder mit den Uzoma noch mit Hilfe der Feuerkrieger war es ihr gelungen, die letzte Bastion der Freigläubigen in Nymath zu vernichten. Oft hatte schon weniger genügt, um in den Flammen zu sterben. Aber sie war nicht gestorben. Sie durfte leben – noch.
Nach ihrer beschämenden Rückkehr aus Nymath hatte der Eine sie großmütig verschont und ihr eine letzte Gelegenheit gegeben, sich zu beweisen, indem er ihr auftrug, den Platz der getöteten Hohepriesterin einzunehmen und seine schwindende Macht zu festigen. Eine leichte Aufgabe, wie es schien.
Erleichtert, dem Zorn ihres Meisters noch einmal entronnen zu sein, hatte sie sich sofort daran gemacht, den Menschen in Andaurien den Namen ihres Gottes nachdrücklich in Erinnerung zu rufen. In den wenigen Mondwechseln ihrer Herrschaft waren dem Einen mehr Opfer dargebracht worden als in den Wintern zuvor …
… und nun hatte sie im Zorn einen Ajabani getötet. Einen Angehörigen der gefürchteten Meuchler, die dem Einen wie kaum ein anderer Stamm treu ergeben waren.
Er war ein Versager, ohne Zweifel. Und unverschämt dazu.
Doch würden die anderen Ajabani das ebenso sehen?
Was würden die Caudillos zu dem Vorfall sagen?
Vhara seufzte, und für einen Augenblick schien es, als breche ihr wahres Alter unter dem Antlitz jugendlicher Schönheit durch. Sie hatte wahrlich andere Sorgen, als sich mit einer Hand voll erzürnter Caudillos zu streiten.
Die Streiter Callugars waren in der Stadt, die Felis würden kommen, um ihre Schwester zu befreien, und niemand vermochte zu sagen, was noch im Volk gärte. Sie war unbedingt auf die Hilfe der Ajabani angewiesen, wollte sie gewährleisten, dass das Opferfest in seinem Ablauf nicht gestört wurde.
Die Hinrichtung der Felis war der Triumph, den sie mehr als alles andere ersehnte, um nach all den Niederlagen endlich zu beweisen, dass sie zu Recht die Würde einer Hohepriesterin trug.
Sie wusste, dass sie nicht noch einmal versagen durfte.
Die Tür wurde geöffnet. Vier Krieger der Tempelgarde traten ein, verneigten sich ehrfürchtig, hoben den Leichnam auf und trugen ihn fort.
Zurück blieb ein glänzender Fleck auf dem Boden, an dem sich eine Hand voll golden schillernder Fliegen gütlich tat.
Gold!
Beim Anblick der Fliegen kam Vhara der rettende Gedanke. Sie würde den Ajabani das Leben dieses Versagers in Gold aufwiegen. Gold hatte schon so manches ungeschehen gemacht, und sie war sicher, dass die Caudillos in ihrer Gier auch den Tod eines ihrer Männer dafür vergessen würden.
***
Die Boote fuhren mit der Strömung flussabwärts, ein sanftes Gleiten auf grünem, stillem Wasser. Nur selten mussten die vier den Kurs korrigieren, um nicht das Uferdickicht mit seinen Schilfen und Baumwurzeln zu streifen.
Ajana konnte den Blick nicht vom Dschungel abwenden. Nach den langen und entbehrungsreichen Tagen in der Wüste nahm sie die unglaubliche Vielfalt von Formen und Farben begierig in sich auf. Lange hatte sie geglaubt, auch jenseits der Wüste nur ein karges Ödland vorzufinden, ähnlich der Steppe nördlich des Pandarasgebirges. Nun blickte sie voller Ehrfurcht auf den üppigen, nicht enden wollenden Dschungel und dessen fremdartige Gewächse: Hohe Bäume mit säulenartigen Stämmen,
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