Das Erbe der Runen 03 - Die Schattenweberin
könnte sie den Gedanken damit aussperren. Ruckartig richtete sie sich auf und griff nach ihrem Paddel, um sich abzulenken.
Dabei fing sie einen fragenden Blick von Keelin auf, den ihr heftiges Gebaren überraschte, aber sie ging nicht darauf ein. Sie wollte nicht darüber sprechen. Jetzt nicht und niemals mehr und schon gar nicht mit Keelin. Sie hatte keine Wahl, und es war Zeitverschwendung, weiter darüber nachzudenken.
Am Abend erreichten sie den Nebenarm, von dem der Stammesälteste gesprochen hatte. Horus kehrte zurück. Da es bereits dunkel wurde, beschlossen sie, die Nacht in einer seichten Bucht am Ufer zu verbringen.
Doch keiner von ihnen fand erholsamen Schlaf. Die Geräusche des nächtlichen Dschungels klangen unheimlich und fremd. Immer wieder gellten Todesschreie durch die Nacht und ließen die Phantasien nicht zur Ruhe kommen. Knackende Zweige und das Rascheln von Blättern in unmittelbarer Nähe schürten die schwelende Unruhe, und ein Tumult im nahen Wasser rief ihnen Aileys’ grausigen Bericht über die Fleisch fressenden Querlas in Erinnerung.
Alle waren froh, die Reise am frühen Morgen endlich fortsetzen zu können. Kraftvoll paddelten sie gegen die Strömung an, die sie mit aller Macht stromabwärts zu drängen versuchte. Und als sei das nicht genug, schien sich auch das Wetter gegen sie verschworen zu haben. Sie waren noch nicht weit gekommen, als ein heftiger Regen einsetzte, der so urplötzlich auf das Land niederging, als wären Hunderte von Schleusen gleichzeitig geöffnet worden. Mit bloßen Händen schöpften sie das Wasser aus den Booten. Regen und Strömung machten den letzten Abschnitt der Reise zu einem kräftezehrenden Unterfangen.
Diesmal legten sie häufiger eine Rast ein, um sich zu erholen, die schmerzenden Muskeln zu entlasten und die Blasen an den Händen zu behandeln, ehe sie den Kampf gegen den Strom und das Unwetter erneut aufnahmen. Die Zeit maß sich an dem monotonen Rhythmus des Paddels, das ins Wasser eintauchte.
Wäre Horus nicht gewesen, wären sie in der einsetzenden Dämmerung, an der seichten Bucht vorbeigefahren, in der bereits unzählige Boote am Ufer lagen.
Sie waren am Ziel.
Inahwen wählte einen Platz am äußeren Rand der Bucht, wo sie die Boote weit auf den Uferstreifen ziehen konnten. Der Boden war schlammig und aufgewühlt. Überall standen tiefe Pfützen, und die feuchtwarme Luft lastete drückend über dem Land, obwohl es noch immer heftig regnete.
Ajana war bis auf die Knochen durchnässt und nahm das unangenehm matschige Gefühl des aufgeweichten Erdreichs unter ihren bloßen Füßen kaum noch wahr. Sie war froh, endlich angekommen zu sein, und schulterte ihr Gepäck in der Hoffnung, bald einen trockenen Unterschlupf zu finden.
Vom Fluss aus führte ein ausgetretener Weg auf einen flachen Hügel hinauf Aileys wollte vorangehen, aber Keelin hielt sie zurück.
»Warte!« Besorgnis schwang in seiner Stimme mit.
»Was ist los?« Die Wunand schaute den Falkner fragend an.
»Zweihundert Schritte hinter dem Hügel stehen Wachen.« Keelin sprach sehr leise.
»Wie viele sind es?«, wollte Inahwen wissen.
»Drei oder vier«, gab Keelin zur Antwort. »Vielleicht auch mehr. Bei dem Regen kann Horus das nur schwer ausmachen.«
»Was hat das zu bedeuten?«, fragte Aileys.
»Es ist ein großes Fest«, sagte Inahwen. »Vermutlich kontrollieren sie alle, die in die Tempelstadt wollen.« Sie zog ein langes buntes Tuch aus ihrem Bündel hervor und schlang es sich so um den Kopf, dass weder Haare noch Ohren zu sehen waren.
»Du solltest es mir gleich tun«, forderte sie Ajana auf. »Die Haarfarbe der Menschen hier ist dunkel. Dein blondes Haar würde nur Aufsehen erregen.«
Ajana nickte. Mit Inahwens Hilfe gelang es ihr, einen halbwegs ansehnlichen Turban um ihre nassen Haare zu schlingen. Dann gingen sie gemeinsam den Hang hinauf – und erblickten zum ersten Mal mit eigenen Augen die Tempelstadt.
Niemand sagte ein Wort. Sie standen nur da und betrachteten staunend das Wunder, das sich ihren Augen jenseits des Hügels bot. Der Anblick übertraf trotz des schlechten Wetters ihre kühnsten Erwartungen. Hinter dem grauen Regenvorhang erhob sich eine prächtige Stadt. Hunderte, wenn nicht Tausende mit Stroh gedeckter Hütten aus hellen Lehmziegeln drängten sich um weitläufige Paläste und Tempel, deren polierter weißer Stein im Regen glänzte. Die Gebäude kündeten von hoher Baukunst, nicht vergleichbar mit dem Gewirr armseliger Hütten, das Ajana
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