Das Erbe der Runen 03 - Die Schattenweberin
erwählt. Die große Versammlung vor dem Fest wird bald beginnen, und ich möchte nichts davon versäumen.«
***
Nach dem Anschlag auf die Hohepriesterin fand die Versammlung nicht wie sonst im Speisesaal des Priesterinnenhauses statt, sondern im Sprechersaal des Haupttempels. Der zweistöckige Palast galt als Zentrum der Macht in Andaurien.
Als Suara und Oxana das prächtige Portal durchschritten, schlugen ihnen die Stimmen von mehr als hundert Priesterinnen entgegen, die sich bereits im Empfangssaal eingefunden hatten.
Das gesamte Erdgeschoss war ein riesiger Saal, der in der Länge fast zweihundert Schritte maß und dessen hohe Decke von marmornen Säulen getragen wurde. An einer Seite führte er auf einen sich weithin erstreckenden Hof hinaus. Dort gab es Teiche mit Seerosen, die von blühenden Stauden umgeben waren, und prächtige Bäume von bizarren Formen.
Die Wände im Innern des Saales waren geschmückt mit kunstvoll gewebten Wandbehängen und Fresken. In die Deckenbalken aus rötlichem Holz waren kunstvolle, spiral- und wellenförmige Muster im Wechsel mit Vogel- und Djakûnmotiven geschnitzt.
Am Ende des Saals standen auf einem Podest drei thronähnliche Stühle aus geflochtenem Schilfrohr: für die Hohepriesterin ein großer, der mit Djakûnfell und Tagarafedern geschmückt war, und zwei kleinere für die Sprecher der Ehrwürdigen.
Für die Priesterinnen lagen gewebte Teppiche auf dem Boden bereit, von denen die meisten schon besetzt waren.
Suara und Oxana suchten sich wie immer einen unauffälligen Platz in den hinteren Reihen. Sie wollten unerkannt bleiben. In dieser letzten und wichtigsten Zusammenkunft aller Priesterinnen würde endlich der genaue Ablauf der zweitägigen Feierlichkeiten zu Ehren des einzigen Gottes bekannt gegeben werden: wichtige Einzelheiten, die auch für die Streiter Callugars von großer Bedeutung waren.
Ihre Geduld wurde auf eine harte Probe gestellt. Nachdem noch einige Nachzügler den Saal betreten hatten, schlossen die Krieger der Tempelgarde die Tore, und es kehrte Ruhe ein.
Alle warteten gespannt. Als sich nichts tat, baute sich langsam wieder Unruhe auf. Die Frauen tuschelten miteinander, andere lachten oder ereiferten sich über etwas. Nur wenige bemerkten, dass die ehrwürdigen Sprecher den Saal betraten. Erst als einer von ihnen in die Hände klatschte, kehrte Ruhe ein.
»Die ehrwürdige Hohepriesterin lässt sich entschuldigen«, verkündete einer der Sprecher kühl. »Sie wird später hinzukommen, um euch die Aufgaben persönlich zuzuteilen. So ist es an mir, den Ablauf des morgigen Festes zu verkünden.«
***
Zum ersten Mal, seit er den Turnierplatz verlassen hatte, war Keelin allein. Vor ihm auf dem Tisch standen köstliche Speisen, doch obwohl er hungrig war, aß er nur wenig davon. Zu sehr war er damit beschäftigt, darüber nachzudenken, was ihm an diesem Nachmittag widerfahren war.
Die Liebe zu den Falken hatte ihn in eine überaus heikle Lage gebracht, dennoch war er sich sicher, dass er immer wieder so handeln würde.
Das Falkenweibchen war frei, das allein zählte, und obwohl er kaum eine Vorstellung davon hatte, was von einem »Gottesboten« verlangt wurde, war er sicher, auch diese Herausforderung meistern zu können – vor allem, wenn sie sich weiterhin so angenehm gestaltete wie bisher.
Nach seiner Ankunft im Tempel hatten ihm Dienerinnen ein Bad mit duftenden Ölen bereitet, ihn gesalbt und in neue, prachtvolle Gewänder gekleidet. Er hatte eine farbig bestickte Tunika, die bis über die Knie reichte, bestickte Armschienen und ein ebensolches Stirnband mit kurzen bunten Federn erhalten, dazu einen ärmellosen roten Umhang, wie ihn nur hoch gestellte Persönlichkeiten trugen, und goldene Oberarmreifen, die ihm zwei Dienerinnen sanft und zärtlich angelegt hatten.
Beim Gedanken daran verspürte Keelin erneut das wohlige Erschauern, das ihn während der ersten Stunden im Palast begleitet hatte. Noch nie war ihm so viel sinnliche Aufmerksamkeit zuteil geworden. Noch nie waren so viele schöne Frauen um sein Wohl besorgt gewesen, und er glaubte zu verstehen, warum die Männer alle so begierig darauf gewesen waren, das Turnier zu gewinnen. Gewiss hätten sie den Kelch bis zur Neige ausgekostet. Sein Ehrgefühl und die Liebe zu Ajana hatten jedoch nicht zugelassen, dass er auf die verlockenden Angebote einging, die die Dienerinnen ihm ganz ohne Scheu gemacht hatten. Alle hatten sich mehr als willig gezeigt, sein Lager
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