Das Erbe der Runen 03 - Die Schattenweberin
in der kommenden Nacht zu teilen, und mit allen Künsten der Verführung darum gebuhlt, ihn für sich zu gewinnen.
Schließlich war die Priesterin gekommen, die ihn auch in den Tempel geführt hatte, und hatte die Dienerinnen verscheucht. Durch einen prächtigen Garten mit üppigen Blumen und stillen Teichen waren sie in einen anderen Teil des Palastes gelangt. Hier hatte man ihm in einem prunkvoll eingerichteten Schlafgemach ein üppiges Mahl aus gebratenen Sumpfhühnern, duftendem Brot und allerlei Früchten gereicht und ihn sodann allein gelassen.
Inzwischen war er schon eine ganze Weile für sich, und die Frage, was noch kommen mochte, verdrängte langsam das Wohlgefühl, das ihm die sinnlichen Freuden bereitet hatten. Besorgt dachte er an Ajana, die nun ohne ihn zum Götterbaum gehen würde.
Und wenn sie scheitert? Wenn sie in Bedrängnis gerät und ich ihr nicht beistehen kann? Plötzlich schämte Keelin sich dafür, so selbstsüchtig gehandelt zu haben. Was war nur in ihn gefahren, dass er das Wohl des Falken über den Schwur gestellt hatte, Ajana zu helfen? Er hatte nur an das Falkenweibchen gedacht und Ajana darüber vergessen.
Es klopfte. Die Priesterin kehrte zurück.
»Die Hohepriesterin Vhara wünscht dich zu sehen«, sagte sie mit ihrer sanften Stimme.
Vhara? Ein eisiger Schrecken durchfuhr Keelin.
Das geht nicht, dachte er. Das ist unmöglich!
Hinter seiner Stirn überschlugen sich die Gedanken. Ajana hatte irgendwann einmal erzählt, dass Vhara angeblich noch am Leben sei, aber er hatte es nicht geglaubt. Schließlich hatte er sie mit eigenen Augen in den feurigen Fluten des Wehlfangs verbrennen sehen. Kein Sterblicher konnte das überleben.
Und wenn sie keine Sterbliche ist?, wisperte es in seinen Gedanken.
Gilian stehe mir bei!, sandte Keelin ein stummes Gebet an den Gott der Lüfte. Wenn sie es ist, bin ich verloren.
»Nun?« Eine leichte Ungeduld schwang in der Stimme der Priesterin mit. »Bist du bereit?«
»Ja. Das heißt: nein«, Keelin fuhr sich mit der Hand über den Bart, wie er es manchmal tat, wenn er in Bedrängnis geriet. Aus dem einst sorgfältig gestutzten Bart war längst ein Vollbart geworden. Weder auf dem Ritt durch die Wüste noch auf dem Weg zur Tempelstadt hatte er Zeit gefunden, ihn zu schneiden. Nur die Zöpfe erinnerten noch an die typische Barttracht der Raiden.
Genau so muss ich am Wnutu ausgesehen haben, als wir Vhara am Wehlfang gegenüber traten, schoss es ihm durch den Kopf. Sie wird mich sofort erkennen.
»Komm, bitte«, drängte die Priesterin. »Die ehrwürdige Herrin wird leicht ungeduldig. Du musst mir jetzt folgen.«
»Das werde ich – gleich.« Keelin erhob sich.
»Gebt mit ein Messer«, forderte er entschlossen.
»Ein Messer?«, fragte die Priesterin verdutzt. »Aber das …«
»Es ist nicht das, was du vielleicht denkst«, beeilte sich Keelin zu erklären und strich mit der Hand über den Bart. »Ich möchte der Ehrwürdigen nur nicht so barbarisch gegenübertreten und würde mich zuvor gern rasieren.«
»Ich verstehe.« Die Erleichterung war der Priesterin deutlich anzusehen. »Warte hier, ich hole dir ein Messer.«
***
»Du kannst verschwinden!« Mit gebieterischer Geste bedeutete Vhara der Priesterin, die Keelin in ihren Audienzsaal begleitet hatte, sich zu entfernen. Sie machte sich nicht die Mühe, sich von dem wuchtigen, mit Djakûnfellen ausgelegten und mit Tausenden von Tagarafedern geschmückten Thronsitz zu erheben, sondern wartete geduldig, bis Keelin sich vor ihr verbeugte.
»Du bist also der Gottesbote«, begann sie im Plauderton. »Von welchem Stamm?«
Keelin zögerte. Er war nicht darauf vorbereitet, dass ihn gleich die erste Frage in Bedrängnis bringen würde, und versuchte sich in Erinnerung zu rufen, von welchen andaurischen Stämmen er gehört hatte.
»Kwannen«, stieß er schließlich hervor.
»Dafür musstest du aber ziemlich lange überlegen.« Vhara hob eine Augenbraue und sah ihn scharf an. Keelin hatte das Gefühl, sie könne ihm bis auf den Grund seiner Seele blicken.
»Ich … ich … Verzeiht, ich bin sehr aufgeregt.«
»Das solltest du auch.« Vhara verzog das Gesicht zu einem spöttischen Lächeln. »Wer sehr aufgeregt ist, schießt bekanntlich nicht besonders gut. Und wer nicht gut schießt, verfehlt das Ziel.«
»Wie … wie meint Ihr das?«, wagte Keelin zu fragen.
»Nun stell dich nicht dümmer als du bist!«, herrschte Vhara ihn an. »Glaubst du etwa, du bekommst das alles hier
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