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Das Erbe der Runen 03 - Die Schattenweberin

Das Erbe der Runen 03 - Die Schattenweberin

Titel: Das Erbe der Runen 03 - Die Schattenweberin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Monika Felten
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Gedankenbildern an einem bestimmten Ort zu versammeln, hatte ihr schon manchen guten Dienst erwiesen, doch nie hatte sie so sehr darauf vertraut wie an diesem Abend.
    Den ganzen Tag über hatte Kerr unermüdlich das Bild der von Riedgras und niedrigem Gestrüpp bewachsenen Insel mitten im Sumpf ausgesandt, um jene dorthin zu rufen, denen der geheime Versammlungsplatz der Nuur vertraut war.
    Es war eine Insel ohne Hütten und feste Lagerplätze, auf der nur ein paar Feuerstellen davon kündeten, dass sich hier in manchen Nächten bis zu einhundert Amazonen versammelten, um gemeinsam Rat zu halten und Neuigkeiten zu besprechen.
    Das war nicht immer so gewesen. Einst hatten die Nuur wie ihre Schwestern, die Wunand, in kleinen Dörfern am Rand der Artasensümpfe gelebt. Hier hatten die Frauen ihre Töchter und die wenigen Söhne erzogen, während sich die jungen Amazonen der Zucht und Ausbildung der jungen Djakûns gewidmet und sich täglich im Umgang mit den verschiedenen Waffengattungen geübt hatten.
    Dann aber war die große Schlacht gekommen, in der das Volk der Nuur nahezu ausgerottet wurde. Die wenigen Überlebenden waren in die Sümpfe geflüchtet. Um sich vor jenen zu schützen, die sie gnadenlos verfolgten, waren sie gezwungen, ihre gewohnte Lebensweise aufzugeben und die Wälder Andauriens fortan auf ihren Djakûn als einsame Nomaden zu durchsteifen.
    Suara hatte nie ein anderes Leben kennen gelernt. Schon zwei Wochen nach ihrer Geburt hatte ihre Mutter den Schutz der Höhle verlassen, in der sie zur Welt gekommen war, und sie auf ihre ausgedehnten Streifzüge mitgenommen – zunächst auf dem Rücken von Dark, dem kräftigen Djakûnweibchen ihrer Mutter, später, im Alter von zehn Wintern, auf Kerr, der als einziger Nachkomme aus Darks Würfen bei ihnen geblieben war.
    Suara hatte den jungen Djakûn nach alter Nuur-Tradition angenommen und ihn unter der Führung ihrer Mutter selbst ausgebildet. Die ersten Winter mit Kerr waren eine glückliche und freie Zeit gewesen, an die Suara gern zurückdachte, die aber ein jähes Ende gefunden hatte, als sie vierzehn Winter gezählt hatte.
    Heute war sie überzeugt, dass ihre Mutter den Hinterhalt geahnt haben musste. Warum sonst hatte sie so nachdrücklich darauf bestanden, dass Suara sie auf diesem Ritt nicht begleitete? Warum hatte sie geweint? Und warum hatte sie ihr das Lederband mit dem halben Silbermond, das ihren Hals zierte, solange Suara sich erinnern konnte, in die Hand gedrückt und sie ermahnt, gut darauf aufzupassen? Damals hatte Suara es nicht verstanden, doch heute wusste sie, dass es dafür nur eine Erklärung gab: Ihre Mutter hatte gespürt, dass sie nicht zurückkehren würde.
    Wie von selbst wanderte Suaras Hand zu der kleinen silbernen Mondsichel, die sie an einem dünnen Lederband um den Hals trug. Es war die einzige Erinnerung an ihre Mutter, die ihr geblieben war. Noch heute machte sie sich bittere Vorwürfe, weil sie damals nachgegeben hatte. Das Bild, das sich ihr geboten hatte, als sie den Ort des Grauens auf der Suche nach ihrer Mutter schließlich entdeckt hatte, hatte sich unauslöschlich in ihr Gedächtnis gebrannt und dem Wort Hass eine neue Bedeutung verliehen.
    Doch obwohl sie den Tod ihrer Mutter in den vergangenen vier Wintern Dutzende Male gerächt hatte, hatte sie doch nie den Seelenfrieden gefunden, nachdem es sie so sehr verlangte.
    Ein trällernder Pfiff riss Suara aus ihren bedrückenden Erinnerungen. Kerr hatte die Insel fast erreicht. Nur wenige Büsche trennten sie noch von der Lichtung. Gleich darauf erkannte sie hinter dem Dickicht den Schein eines Lagerfeuers und hörte leises Stimmengemurmel.
    Sie sind gekommen! Suaras Herz machte vor Freude einen Satz.
    Dass die Djakûn sich untereinander nur Bilder eines Ortes übermitteln konnten, nicht aber den Grund des Treffens, war ein Mangel, der oft zu Missverständnissen führte. Zwar konnten die Nuur am Verhalten ihres Djakûns zu erkennen, dass ein Ruf erfolgt war, sie mussten jedoch ohne jede Kenntnis über den Anlass abwägen, ob sie der Versammlung beiwohnen wollten oder nicht.
    Suara hob die Hände an den Mund und kündigte ihr Nahen mit dem verabredeten Zeichen an: einem lang gezogenen, an- und abschwellenden Ton, der den Balzruf eines Sumpfhuhns nachahmte.
    Als der Ton verhallte, betrat Kerr die Lichtung.
     
     

    ***
     
    »Ajana?« Mit einer geschmeidigen Bewegung richtete sich die Gestalt am Feuer auf. »Fuginors feurige Glut, was führt Euch hierher, mitten in der

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