Das Erbe der Runen 2 - Die Feuerpriesterin
schwinden sahen? Warum hatten sie jene, die noch dem alten Glauben anhingen, im Stich gelassen, anstatt darum zu kämpfen, dass man sich ihrer wieder erinnerte? Hatten sie wirklich geglaubt, dass man ihnen nachtrauern würde, wenn sie sich zurückzogen und nicht mehr erreichbar waren? Hatten sie nicht die Gefahr erkannt, dass sich ein anderer die entstandene Lücke zum Vorteil machen könnte?
Asza erhob sich vorsichtig und trat neben den Wanderer an Emos blumengeschmückte Ruhestätte. Das goldene Licht hatte sich weiter verstärkt, die Blüten und Blätter ihre prachtvollen Farben zurückgewonnen, und das Grau im Gesicht der wilden Jägerin war einer rosigen Farbe gewichen. Noch hielt sie die Augen geschlossen, aber Asza spürte, dass es nicht mehr lange dauern würde, bis sie erwachte.
»Mutter«, flüsterte sie leise. Wieder fühlte sie Tränen in den Augen, doch diesmal waren es Tränen des Glücks. Einer plötzlichen Eingebung folgend, barg sie die kühlen, bleichen Finger der Göttin in ihren warmen Händen, und als hätte dies den Bann endgültig gebrochen, schlug Emo die Augen auf.
Als die Weggefährten, die eine kleine Ewigkeit zuvor im Tal der Vaughn aufgebrochen waren, schließlich staubbedeckt und bis zum Umfallen erschöpft aus dem von Geröll und Sandmassen verschütteten Tunnel krochen, kündete ein glutroter Steifen am östlichen Himmel vom Beginn eines neuen Morgens. Die Luft war kühl und klar, und der Wind strich sachte über die endlose Weite der Wüste.
Ajana atmete tief durch und ließ den Blick über die atemberaubende Landschaft schweifen. Sie hatte nicht geahnt, wie wunderbar köstlich frische Luft schmeckte und wie befreiend es sein konnte, den Blick bis zum Horizont zu richten. Vor ihr erhoben sich sanft gewellte Dünen. In den roten Sand hatte der Wind ein gleichmäßiges wellenförmiges Muster gezeichnet, das so unberührt dalag, als hätte niemals zuvor ein Mensch seinen Fuß auf dieses Land gesetzt.
»Ist das nicht unbeschreiblich?« Erleichtert, der bedrückenden Enge und Düsternis der Höhlen entflohen zu sein, schaute Ajana Keelin an.
»In meinem ganzen Leben habe ich mich noch nie so sehr nach dem Anblick der Sonne gesehnt.« Keelin erwiderte ihren Blick, und was Ajana darin las, ließ ihr Herz höher schlagen.
»Ich bin so froh, dass du da bist«, murmelte sie in Erinnerung an die ausgestandenen Schrecknisse.
Keelin ergriff ihre Hand. »Was auch geschehen mag, ich werde dich mit meinem Leben beschützen«, sagte er fast feierlich, und Ajana spürte, dass dies weit mehr als nur ein Schwur war. Für einen winzigen Moment schien ein Schatten die Sonne zu verdunkeln, als sie sich der Bedeutung der Worte bewusst wurde. Hastig verdrängte sie das beklemmende Gefühl und wandte sich wieder Keelin zu, der seinen Blick auf den Himmel im Osten gerichtet hatte. »Wird Horus uns finden?«, fragte sie ablenkend.
»Ich habe ihm gerade ein Bild dieses Ortes gesandt«, erwiderte Keelin. »Er wird hierher kommen, aber sicher nicht so bald. Der Weg ist weit.«
»Kann er denn über die Nebel fliegen?« Plötzlich hatte Ajana Sorge, dass dem Falken etwas zustoßen könnte.
»Die Nebel sind zu hoch.« Keelin schüttelte den Kopf. »Aber er kann sie umgehen, indem er einen weiten Bogen über den Wehlfang-Graben fliegt.«
»Er wird kommen.« Ajana drückte aufmunternd Keelins Hand. Dann wandte sie sich um, blickte noch einmal zu dem Geröllhaufen zurück, durch den sie den Tunnel vor wenigen Augenblicken verlassen hatten – und hielt verwundert inne. Der Ausgang des Tunnels, eben noch ein dunkles Loch inmitten von Sand und Steinen, war nicht mehr zu sehen! Es war, als gäbe es den Tunnel gar nicht. Ajana überlegte. War es möglich, dass hier noch ein Teil der uralten Magie wirksam war, um die versunkene Stadt vor unliebsamen Eindringlingen zu schützen?
Sie beschloss, Ghan später danach zu fragen, und richtete ihre Aufmerksamkeit auf das, was drohend hinter dem Haufen aus Sand und Geröll aufragte: die graue Nebelwand des Arnad.
Kaum hundert Schritte entfernt, erhob sich die tödliche Grenzlinie aus Elbenmagie wie ein schreckliches Monstrum über den Fluten des Flusses.
Ein Monstrum! Ajana erschauerte. Und ich habe es geschaffen! Obwohl der Krieg und die Schlacht am Pass nicht zuletzt durch den Einsatz des Runenamuletts ein Ende gefunden hatten und Nymath endlich Frieden beschert war, verspürte sie keinen Stolz auf das, was sie vollbracht hatte – im Gegenteil. Jetzt, da sie
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