Das Erbe der Runen 2 - Die Feuerpriesterin
unter dem groben Griff, doch ihre Kräfte waren denen des dunklen Gottes nicht gewachsen.
»Lass sie los!«, rief der Wanderer aufgebracht. »Das hier geht nur dich und mich etwas an.«
»Da irrst du!« Der Dunkelgewandete machte eine herrische Handbewegung. »Sie hat dich befreit. Das genügt, um ihr Leben zu verwirken. Allerdings …« Er bedachte die Fremde mit einem langen, schwer zu deutenden Blick. »Du gefällst mir«, sagte er mit unheilvollem Lächeln, streckte den Arm aus und legte die Hand unter Aszas Kinn. »Ich denke, ich werde dein Leben verschonen. Es gibt amüsantere Strafen für …«
»Rühr mich nicht an!« Asza schlug seine Hand beiseite.
»Du!« In den Augen des dunklen Gottes erschien ein zorniges Glühen.
Doch Asza zeigte keine Furcht. Stolz hob sie den Kopf und sagte kühl: »Du machst mir keine Angst.«
Der Dunkelgewandete atmete hörbar ein. Eine unausgesprochene Drohung hing in der Luft, doch der gefährliche Augenblick verstrich, ohne dass etwas geschah.
»Wer bist du?« Er zog Asza an sich und blickte ihr tief in die Augen. Flüchtig rührte sich eine Erinnerung in ihm, und er hatte das Gefühl, sie schon einmal gesehen zu haben, irgendwo, vor langer Zeit. Doch gerade als er glaubte, sich zu erinnern, entschlüpfte ihm der Gedanke und ließ ihn ratlos zurück. »Wer bist du?«, fragte er noch einmal drohend, um sich die Verwirrung nicht anmerken zu lassen. »Kein Sterblicher kann das Tor passieren, kein lebendes Wesen den Fluss überqueren. Nur die Macht eines Gottes vermag die Körperlosen zu beeindrucken und ihnen zu befehlen. Doch die Götter sind fort. Also, wer bist du?«
»Es ist nicht von Belang, wer deinem verwerflichen Plan ein Ende bereitet«, warf der Wanderer ein. Er hatte die Zeit genutzt, um ein paar Schritte in das Halleninnere zu gelangen, und ließ den Blick forschend umherschweifen. »Ich bin hier, und ich werde nicht gehen, ehe ich erfahren habe, was hier geschehen ist.«
»Ja, wahrlich, du bist hier.« Der Dunkelgewandete lachte schallend, als habe der Wanderer einen besonders gelungenen Scherz gemacht. Dann schleuderte er Asza mit einer kraftvollen Bewegung zu Boden, trat ganz nahe an seinen Gegenspieler heran und sagte spöttisch: »Aber wie so oft kommst du zu spät!« Er sog hörbar die Luft ein und fügte sichtlich angewidert hinzu: »Doch was sollte man von einem von Ecolu umnachteten Verstand auch anderes erwarten? Du warst schon immer ein Versager. Du und deine Brüder, ihr alle habt jämmerlich versagt.« Er machte einen Schritt zur Seite und deutete mit ausgestrecktem Arm auf Emos Ruhestätte. »Sie war hier!«, verkündete er triumphierend. »Etwas rief sie aus dem fernen Reich zurück, und sie kam, um danach zu sehen.« Er grinste siegesgewiss und breitete die Arme aus, um seine gelungene Täuschung hervorzuheben. »Welch ein Glück für sie, dass einer ihrer getreuen Diener sie hier demütig erwartete, um ihr zu versichern, dass ihre Anwesenheit nicht vonnöten sei.« Dann bückte er sich, hob ein paar der farbigen Blüten vom Boden auf und zerquetschte sie zu Staub. »Die arme, bezaubernde Emo«, sagte er ohne eine Spur von Mitleid, während er den Staub langsam durch die Finger rieseln ließ. »Ohne Menschen, die an sie glauben, schwanden ihre Kräfte unaufhaltsam dahin. Unsere geliebte Emo musste schon bald einsehen, dass es das Beste für sie wäre, wenn sie sich wieder zur Ruhe …«
»Mutter!« Asza hatte die Benommenheit abgeschüttelt, die ihr der Sturz eingebracht hatte. Mit einer entschlossenen Bewegung kam sie auf die Beine. Ohne auf den Warnruf des Wanderers zu achten, stürmte sie durch die Halle auf Emos Ruhestätte zu. »Mutter!«, rief sie in tiefer Verzweiflung und schlang die Arme um den halb erstarrten Körper der wilden Jägerin. »Ich bin es, Asza – deine Tochter! Komm zurück! Ich flehe dich an …« Sie schluchzte leise und vergrub das Gesicht in den zu Stein erstarrten Haaren der Göttin.
»Asza!« Der Dunkelgewandete stieß den Namen auf eine Weise hervor, als sei er mit einem Makel behaftet.
Endlich löste sich das Rätsel um die Befreiung des Wanderers, und er erinnerte sich daran, warum ihm das Gesicht so vertraut erschien. »Du hast kein Recht, diese Halle zu betreten«, fuhr er die junge Göttin herrisch an.
»Du irrst dich!«, antwortete der Wanderer, ehe Asza etwas sagen konnte. »Das Tor öffnete sich für sie. Sie hat die Prüfung bestanden und ihre Schuld gesühnt. Sie ist frei!«
… das Tor öffnete sich
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