Das Erbe der Runen 2 - Die Feuerpriesterin
Gedanken an den unwegsamen Pass, auf dem sie das Pandarasgebirge überquert hatten, verfinsterte sich Bayards Miene, und er wandte sich zu Keelin um, der eine halbe Länge hinter ihm ritt.
Der junge Falkner hatte seit dem Aufbruch kaum ein Wort gesprochen. Das Gesicht von tiefer Sorge gezeichnet, ritt er dahin, den Blick mehr zum Himmel als auf das Land ringsumher gerichtet.
Horus war noch immer nicht zurückgekehrt.
Das letzte Lebenszeichen, das Keelin von ihm empfangen hatte, kam aus der Kardalin-Schlucht. Der Falke musste sie bereits am Abend des vergangenen Tages passiert haben, und Keelin war sich sicher gewesen, dass Horus noch vor Einbuch der Dunkelheit zu ihnen stoßen würde. Aber der Falke war noch immer nicht zurückgekommen. Am Abend nicht und auch nicht bei Sonnenaufgang, und je länger er ausblieb, desto schweigsamer wurde Keelin.
Ajana entging der besorgte Blick des Heermeisters nicht. Auch sie betrübte Keelins Kummer. Noch in der Nacht war er so zuversichtlich gewesen, dass Horus mit dem ersten Licht des Morgens auftauchen würde. Aber diese Hoffnung war rasch dahingeschmolzen, je höher die Sonne stieg. Es schmerzte Ajana zu sehen, wie sehr der junge Falkner litt, doch sie wusste zu wenig über die Verbindung zwischen Falknern und ihren Falken und fürchtete etwas Dummes zu sagen, wenn sie ihn darauf anspräche.
So ließ sie ihr Pferd antraben und lenkte es neben Bayard. »Es wäre schön zu wissen, ob die Festung standgehalten hat«, bemerkte sie in zwanglosem Ton.
»Ja, das wäre es.« Bayard nickte düster, ließ das unwegsame Gelände dabei jedoch nicht aus den Augen. Das trockene und karge Land, dass sich vor ihnen bis zum Fuß des Pandarasgebirges erstreckte, war voll von Geröll und riesigen Felsgruppen, hinter denen sich mühelos Feinde hätten verbergen können. »Es wäre auch schön, wenn wir endlich wieder einen bereiten Kundschafter hätten«, murmelte er so leise, dass Keelin es nicht hören konnte.
»Macht Ihr Keelin einen Vorwurf?« Ajana war überrascht. »Es trifft ihn doch gewiss keine Schuld daran, das Horus nicht zurückkommt«, sagte sie und fügte etwas leiser hinzu: »Ihr seht doch selbst, wie sehr er leidet.« Sie schwieg einen Augenblick und sagte dann im Flüsterton: »Vielleicht wurde Horus ja getötet. Ich hörte einmal, dass es durchaus vorkommt, dass die Uzoma mit Pfeilen auf …«
»Horus ist nicht tot.« Die Miene des Katauren blieb unbewegt.
»Wie könnt Ihr Euch da so sicher sein?« Die überzeugte Art, in der Bayard zu ihr sprach, bestärkte Ajana darin, dass sie noch viel zu wenig über diese seltsame und fremde Welt wusste, deren altertümliche Sitten und Lebensweise dem Mittelalter ihrer Geschichtsbücher entsprungen zu sein schien, die darüber hinaus aber noch weit mehr an Geheimnissen in sich barg als die Magie des Runenamuletts und die exotischen Wesen, die hier lebten.
»Er würde es spüren«, erwiderte Bayard so ruhig, als erkläre er Ajana, dass ein Messer scharf sei. »Wäre Horus tot, müssten wir nicht nur um Keelins Gesundheit, sondern auch um seinen Verstand bangen.«
»So eng ist die Bindung?« Ajana konnte ihr Erstaunen nicht verbergen. Es war ihr zwar nicht entgangen, dass Keelin eine große Zuneigung zu seinem Falken hegte; dass ein Mensch jedoch in der Lage war, die Gefühle eines Vogels so unmittelbar zu teilen, hätte sie nie für möglich gehalten. Sie selbst hatte viele Jahre einen Hund gehabt, an dem sie mit großer Liebe gehangen hatte. Doch eine derart enge gedankliche Verbindung zu ihm hatte sie nie empfinden können – obwohl er lange Zeit ihr bester Kamerad gewesen war.
Ganz unvermittelt griff das Heimweh nach Ajana. Aus der Tiefe der Erinnerungen brandete es heran, verzehrend wie eine dunkle Woge. Sie sah ihr Zimmer vor sich und ihren Hund, der sie zum Spazierengehen aufforderte. Sie sah, wie der Sonnenschein durch die duftigen Gardinen auf ihr Bett und den großen alten Plüschbären mit dem freundlichen Gesicht flutete.
Ihr Plüschbär! Das geliebte Stofftier erschien ihr in diesem Augenblick wie der Inbegriff einer heilen und sorglosen Welt. Für Bruchteile von Sekunden glaubte sie seinen vertrauten Geruch in der Nase zu spüren und gleich darauf auch schon das verräterische Kribbeln in der Nase, mit dem sich die Tränen ankündigten.
Nein! Energisch schob Ajana die belastenden Gedanken beiseite. Sie hatte keinen Grund, traurig zu sein.
Schließlich befand sie sich längst auf dem Heimweg!
Schon bald würde sie
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