Das Erbe der Runen 2 - Die Feuerpriesterin
den Ort aufsuchen, den Gaelithil ihr beschrieben hatte, um dort Raido, die Reiserune, anzurufen und nach Hause zurückzukehren. Ajana lächelte. Nach Hause …
»Die Gabe der Raiden ist etwas ganz Besonderes.« Bayards halblaute Worte rissen Ajana aus ihren Gedanken. »Die Bindung zwischen den Kundschaftern und ihren Falken ist in Nymath einzigartig. Einem Raiden bedeutet der Bund mit einem Falken mehr als die Bindung an seine Familie. Er ist für ihn wie eine Erfüllung.« Kurz schaute er zu Keelin hinüber, der nach wie vor in Gedanken versunken schien, und schüttelte den Kopf. »Aber die Gabe hat auch ihre dunklen Seiten.«
»Wenn Horus nicht tot ist, wo ist er denn dann?« Ajana machte eine hilflose Geste. »Warum kann Keelin ihn nicht erreichen?«
Bayard seufzte und strich sich mit der Hand nachdenklich über den Bart. »Thorns heilige Rosse«, murmelte er. »Das wüsste ich auch gern.«
Vhara gönnte dem Hengst keine Rast. Ohne auf die Zeichen der Erschöpfung zu achten, die immer deutlicher wurden, je weiter die Sonne nach Westen wanderte, trieb sie ihn in der glühenden Hitze voran. Die Hohepriesterin wusste, dass es nur eine Frage der Zeit war, bis der Rappe der Erschöpfung, der Hitze und dem Mangel an Wasser erliegen würde, und war fest entschlossen, seine schwindenden Kräfte bis zur bitteren Neige auszubeuten.
Als sich die Sonne dem Horizont entgegenneigte, verließen den Hengst endgültig die Kräfte. Eine Weile trottete er noch mit hängendem Kopf und zitternden Beinen dahin, dann blieb er stehen. Mit zitternden Flanken hielt er sich gerade noch auf den Beinen. Alle Versuche, das erschöpfte Tier zum Weitergehen zu bewegen, scheiterten. Obgleich Vhara so rücksichtslos von der Gerte Gebrauch machte, dass sich auf dem schwarzen Fell blutige Striemen abzeichneten, bewegte sich der Hengst nicht mehr vom Fleck. Sein Atem ging stoßweise, die trockene Zunge hing aus dem geöffneten Maul. Die Augen starrten glasig ins Leere, dann knickten die Vorderbeine ein, und er stürzte zu Boden.
Mit einer geschmeidigen Bewegung sprang Vhara im letzten Augenblick aus dem Sattel und landete sicher im weichen Sand.
Das Pferd starb.
Fluchend erhob sie sich und entnahm den Packtaschen die wenigen Dinge, die für sie von Nutzen waren: einen fest gewebten Umhang zum Schutz gegen Sandstürme, ein dolchartiges Opfermesser in kunstvoll verzierter Lederscheide und einen Beutel mit magischen Kleinodien.
Sie wollte eben den langen Stab aus Wurzelholz aus den Schlaufen am Sattel lösen, als eine alles verschlingende Dunkelheit jäh nach ihrem Bewusstsein griff. Die Umgebung verschwamm vor ihren Augen, und eine eisige Kälte ließ ihren Körper bis in die Fingerspitzen erstarren. Lederbeutel und Opfermesser entglitten ihren Händen. Wie blind tastete sie nach dem Körper des Tieres, um sich abzustützen. Ein kurzer spitzer Schrei entfloh ihrer Kehle, zerriss die Stille ringsumher und verlor sich in der endlosen Weite der Wüste.
Dann wurde es still.
Nur die leisen, rasselnden Atemgeräusche des todgeweihten Pferdes waren zu hören. Vhara kniete neben dem Tier. Endlose Herzschläge lang rührte sie sich nicht, während sie mit geschlossenen Augen eine heftige Vision empfing: eine Vision von loderndem Feuer und unzähligen, dunklen Gestalten, die in blinder Zerstörungswut die Mauern eines Gebäudes niederrissen, dessen Umrisse ihr nur allzu vertraut waren. In bruchstückhaften Bildern wurde sie Zeuge von so unglaublichen Ereignissen, dass ihr Versrand sich weigerte, ihnen Glauben zu schenken.
Das konnte nicht sein!
Die Uzoma würden es niemals wagen, sich …
Oder doch?
So schnell wie sie gekommen waren, verblassten die Bilder, und die Dunkelheit wich dem Licht. Für wenige Augenblicke kniete Vhara noch reglos am Boden, dann öffnete sie die Augen und wandte sich um. Ihr anmutiges, fein geschnittenes Gesicht war zu einer Maske des Zorns erstarrt, in der die Augen wie glühende Kohlenstücke in den Höhlen lagen.
»Diese abtrünnigen Frevler!«, stieß sie in unbändigem Hass hervor. »Wie können sie es wagen?« Mit hölzernen Bewegungen bückte sie sich, hob den Opferdolch auf und zog ihn aus der Scheide.
Die Kaziken wollten sie töten, daran bestand kein Zweifel. Dass die Verschwörung jedoch so weit ging, wie die Vision es ihr glauben machte, wollte Vhara trotz der eindeutigen Bilder nicht wahrhaben.
Sie musste Gewissheit bekommen, musste mit eigenen Augen sehen, was die Vision ihr zugetragen hatte. Und
Weitere Kostenlose Bücher