Das Erbe der Runen 2 - Die Feuerpriesterin
dafür gab es nur einen Weg.
Die blank gezogene Klinge blitzte unheilvoll im Sonnenlicht, als Vhara neben das Pferd trat. »Du hast deine Schuldigkeit getan«, murmelte sie leise und hob den Dolch. »Aber du kannst mir noch einen letzten Dienst erweisen.« Mit einer schnellen Bewegung ritzte sie die Haut des Pferdes so tief, dass dunkelrotes Blut daraus hervorquoll. Der Hengst zuckte noch einmal kurz, dann rührte er sich nicht mehr.
Voller Abscheu starrte Vhara auf den Blutstrom, der den Hals herablief und von dort auf den trockenen Wüstensand tropfte. Obgleich sie die Macht der Magie fast ausschließlich aus der Kraft des Blutes gewann, war ihr das Ritual der Weitsicht schon immer zuwider gewesen.
Blut in den Opferschalen, in rituellen Gefäßen oder auch an den Händen, all das war ihr wohl vertraut. Aber das warme Blut aus dem Körper eines Tieres zu saugen, erweckte in ihr ein tiefes Gefühl von Ekel.
Doch es blieb ihr keine andere Wahl.
Zögernd näherten sich ihre Lippen dem Hals des Rappen.
Die strengen Ausdünstungen des verschwitzten Pferdeleibs streiften ihre Nase und mischten sich mit dem süßlichen Geruch des Blutes. Als der warme Lebenssaft des Pferdes ihre Lippen benässte, schloss sie erschauernd die Augen. Der salzig-metallische Geschmack entfachte in ihr eine so heftige Welle der Übelkeit, dass es ihr nur mit einer enormen Willensanstrengung gelang, das Würgen zu unterdrücken.
Noch einmal löste sie sich von der Wunde und rezitierte mit zusammengepressten Lippen die geheimen Worte, die das Ritual der Weitsicht einleiteten. Dann begann sie zu saugen.
Die berauschende Wirkung des Blutes entfaltete sich fast augenblicklich. Noch während der erste Schluck ihre Kehle hinabrann, spürte Vhara das schwebende Gefühl, mit dem sich ihr Geist erweiterte, während der schwache Luftzug, den die Sonne über dem heißen Sand heraufbeschwor, ihre Ohren wie das Rauschen eines heftigen Windes streifte.
Mit jedem weiteren Schluck stürmten neue Reize auf sie ein. Die Hohepriesterin war erfahren genug, ihr Bewusstsein vor der zerstörerischen Wirkung einer verstärkten Wahrnehmung zu schützen. Gänzlich aussperren ließ sie sich jedoch nicht. Ihre Haut wurde so empfindlich, dass ihr selbst die leichten Berührungen ihrer locker fließenden Gewänder Schmerzen bereiteten, doch sie hielt die Augen geschlossen und zwang sich, noch mehr von der warmen, dicken Flüssigkeit hinabzuwürgen.
Dann war es vollbracht.
Ungeachtet des Blutes, das ihr aus den Mundwinkeln rann, wandte sich Vhara von dem Pferd ab. Ein letztes Mal prüfte sie die Barrieren, die sie um ihr Bewusstsein errichtet hatte, dann öffnete sie die Augen.
Die Flut der Bilder, die nun auf sie einstürmten, war schier unerträglich.
Alles, was sich in einem Umkreis von hundert Schritten befand, erschien ihr plötzlich so stark vergrößert, als wäre sie auf die Maße eines Insekts zusammengeschrumpft. Die feinen Körner des Wüstensandes muteten wie faustgroße Kiesel an, und der einsame rote Wüstenkäfer – für gewöhnlich nicht größer als ein Daumen –, der mit schabenden Gliedern über den Sand eilte, wirkte mit seinem Zangenmaul und den spitzen Widerhaken an den sechs geschuppten Beinen so Furcht erregend wie ein monströses Ungetüm.
Endlose Augenblicke verstrichen, ehe Vhara in der Lage war, die ungeheuerlichen Eindrücke zu verkraften und die aufkommende Panik zu unterdrücken. Als sich ihr Herzschlag wieder auf ein normales Maß verlangsamt hatte, der Atem sich beruhigte und die Furcht einer nüchternen Betrachtungsweise wich, wagte sie den Versuch, einen Blick auf den Ort zu werfen, den ihr die Vision gezeigt hatte …
Vorsichtig hob sie den Kopf und blickte über die Dünenkämme hinweg nach Osten, dorthin wo Udnobe, die Hauptstadt der Uzoma, fast einen Tagesritt entfernt hinter dem Dunstschleier der Wüste lag.
Zeig mir Udnobe!
Kaum hatte sie den Gedanken innerlich ausgesprochen, da schoss die Wüstenlandschaft auch schon mit Schwindel erregender Geschwindigkeit an ihr vorbei; verzerrte Bilder sich ständig wandelnder roter Dünen unter einem strahlend blauen Himmel, an dessen Horizont der helle Nebelstreifen über dem Arnad rasch zu einer unüberwindlichen Mauer heranwuchs. Vor dem Hintergrund der magischen Nebelwand tauchte Udnobe als dunkler Flecken in der roten Einöde auf, und der rasante Flug neigte sich dem Ende entgegen.
Schon von weitem erkannte Vhara einen dunklen Schleier, der sich über die Stadt breitete:
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