Das Erbe der Runen 2 - Die Feuerpriesterin
schmecken, eines berauschenden Tranks, den man den Blutopfern reichte, weil er die Furcht vertrieb und den Willen zur Gegenwehr nahm. Wie damals sah sie vor ihrem geistigen Auge die freudige Erwartung in den Augen ihrer Geschwister aufblitzen, als man sie in die Turona kleidete, das kunstvoll bestickte Opfergewand der Siebenten, und zum Altar führte. Und wie damals durchlebte sie in Gedanken noch einmal den Augenblick, da sich das Opfermesser der schwarz verhüllten Priesterin tödlich blitzend auf ihre Kehle herabsenkte.
Erinnerungen an Schmerzen besaß sie keine, nur an eine samtene Dunkelheit, die sie sanft und leise davontrug.
Und dann sah sie ihn!
Ein heißes, sinnliches Gefühl schoss Vhara bei der Erinnerung an jenen Augenblick durch die Glieder, als sie dem dunklen Gott zum ersten Mal begegnet war. Im lodernden Schein eines gewaltigen Feuers erschien er ihr in der Gestalt eines schönen Jünglings, zu dem sie sich sofort hingezogen fühlte. Niemals würde sie den Kuss vergessen, mit dem seine glutheißen Lippen die ihren verschlossen, und niemals den Augenblick leidenschaftlicher Erfüllung, da er ihren Leib und ihre Seele für sich forderte, um ihr im Angesicht des Todes ein neues Leben zu schenken.
Ein Leben, so unsterblich wie die Macht des Feuers, die er in ihr Herz gepflanzt hatte. Dem dunklen Herrscher in bedingungsloser Unterwürfigkeit ergeben, wandelte sie von diesem Augenblick an auf Pfaden, die nur seinen auserwählten Priesterinnen vorbehalten waren. Sie sah, was keines Menschen Auge je erblickte, und lernte, die Magie des Blutes für sich zu nutzen, um schließlich dorthin zurückzukehren, wo alles begonnen hatte – nach Andaurien.
Das Pferd scharrte ungeduldig mit dem Huf und erinnerte Vhara daran, dass sie abgestiegen war, um dem dürstenden Tier Wasser und Futter zu geben.
Umständlich machte sie sich daran, den ledernen Beutel, aus dem die Uzoma-Pferde in der Wüste fraßen und soffen, aus dem Gepäck zu lösen. Es fiel ihr schwer, da sie keine Übung in der Arbeit eines Knechts hatte. Außerdem waren die spröden Lederriemen von der Sonne ausgedörrt und ließen sich kaum durch die Schnallen ziehen. Vhara mühte sich redlich, hatte aber nur zögernd Erfolg. Ihre schlanken Finger schmerzten, und sie haderte erbost mit der Entscheidung der Kaziken, die einer Hohepriesterin solch niedere Verrichtungen zumuteten. Als ihr kurz darauf noch einer ihrer langen grün gefärbten Fingernägel abbrach, verlor sie die Beherrschung. »Serkses feurige Haare, das ist einer Priesterin schlicht unwürdig!« Grob zerrte Vhara den Beutel unter dem Gepäck hervor, schleuderte ihn zu Boden und starrte wütend auf die zersplitterten Überreste dessen, was eben noch ein kunstvoll gestalteter Fingernagel gewesen war. »Diese verfluchten Kaziken hätten mir wahrlich einen Burschen für solche erniedrigende Arbeiten mitgeben können«, ereiferte sie sich und versetzte dem Beutel einen so zornigen Tritt, als trüge dieser die Schuld an ihrer misslichen Lage.
Das Pferd schnaubte und schüttelte unwillig die schwarze Mähne. Es hatte den Futterbeutel erkannt und wurde ungeduldig.
»Schon gut!«, sagte Vhara in einem Tonfall, der deutlich machte, dass nichts gut war. »Ich weiß ja, dass du durstig bist.« Während sie sich im Stillen weiter über die Kaziken ärgerte, die ihr die Pflichten eines Stallburschen zumuteten, wandte sie sich wieder den Packtaschen zu. Mürrisch griff sie nach dem Wasserschlauch – und hielt plötzlich inne.
Der Schlauch war leer!
Leer!
Fassungslos starrte Vhara auf das schlaffe Leder in ihren Händen. Wie war das möglich? Sie hatte sich bei ihrem Aufbruch doch selbst davon überzeugt, dass beide Wasserschläuche prall gefüllt waren.
Von bösen Vorahnungen getrieben, eilte sie um das Pferd herum, um auch den zweiten Wasserschlauch zu überprüfen, doch hier bot sich ihr das gleiche Bild: Auch er war leer.
Vhara riss das Behältnis vom Sattel und betrachtete es eingehend von allen Seiten. Im Gegensatz zu dem ersten Wasserschlauch enthielt dieser noch eine Hand voll vom kostbaren Nass; einen Hinweis darauf, auf welche Weise das Wasser entwichen sein konnte, entdeckte sie jedoch nicht.
»Blut und Feuer!« Außer sich vor Wut hob Vhara den Arm, um die Schläuche fortzuschleudern, führte die Bewegung jedoch nicht zu Ende. Ganz unten, im Boden eines Schlauches, zeichneten sich drei kleine dunkle Flecken auf dem hellen Leder ab, die zuvor noch nicht da gewesen waren. Feuchte
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