Das Erbe der Runen 2 - Die Feuerpriesterin
Kopfüber, die Hände an die Stützpfeiler des Gerüsts gebunden, hing er wie ein Opfertier im Feuerschein, und selbst jetzt gab er die sinnlose Gegenwehr nicht auf.
Auf ein Zeichen Kruins hin trat ein Krieger vor und riss ihm das Tuch vom Kopf. Othons fleischiges Gesicht war tiefrot, die Augen quollen aus den Höhlen, seine Lippen bewegten sich unablässig. Er winselte, flehte und schrie, doch niemand schenkte ihm Beachtung.
Das Augenmerk der Umstehenden galt einer verhüllten Gestalt, kaum größer als ein Knabe, die auf Kruins Wink hin aus der Gasse trat. Aus den Händen des Stammesfürsten nahm der Verhüllte ein blitzendes Messer in Empfang und schritt an der Seite eines Kriegers auf Othon zu. Der Krieger packte Othon grob bei den Haaren und bog seinen Kopf weit nach hinten, während der Kleinwüchsige in tödlicher Gelassenheit die Klinge hob …
Das Gesicht der Hohepriesterin blieb unbewegt, als sie den stummen Todeskampf des Whyono beobachtete. Sein grausames Ende berührte sie kaum.
»Also gut, ich habe es gesehen«, sagte sie schließlich kühl, ohne etwas von ihren Gefühlen preiszugeben. »Und was willst du mir damit sagen?«
»Betrachte es als Botschaft.« Auf ein Zeichen des Fremden hin verschwand das Bild des sterbenden Whyono, dessen zuckende Bewegungen langsam an Kraft verloren. »Und denke immer daran: Die Knoten der Macht werden neu geknüpft.«
Vhara schnaubte abfällig. »Dass das Heer geschlagen ist, wusste ich längst. Die Stammesfürsten haben Othon getötet. Nun ja, das ist ihr gutes Recht, schließlich müssen auch sie einen Schuldigen für ihre Niederlage benennen. Sein Tod bedeutet für niemanden einen Verlust. Er ist nur ein Sterblicher und leicht …« Blitzartig schlug sie nach einer Aasfliege, die sich auf ihrem Arm niedergelassen hatte. »Serkses feurige Haare, es wird höchste Zeit, hier zu verschwinden, bevor der Aasgeruch Lagaren anlockt«, murmelte sie verärgert vor sich hin, wandte sich wieder dem Fremden zu – und erstarrte.
Er war fort.
Vhara schaute sich um, doch wohin sie auch blickte, nirgends waren die Umrisse des Mannes vor dem Hintergrund der endlosen Wüste zu sehen. Die Nunou erstreckte sich in alle Himmelsrichtungen so eintönig und unberührt wie zuvor, und nicht einmal dort, wo er gestanden hatte, konnte sie Spuren im Sand entdecken.
Die Knoten der Macht werden neu geknüpft. Vhara runzelte nachdenklich die Stirn.
Wer war er? Was wusste er?
Auf diese Fragen würde sie hier gewiss keine Antwort finden. Es wurde Zeit aufzubrechen. Wenn die Prophezeiung des Fremden zutraf, war noch nichts entschieden. Auch sie hatte noch einige Knoten zu knüpfen. Mächtige Knoten, die ihr am Ende doch noch den ersehnten Sieg bringen würden …
Unermüdlich trug der große Mahoui die beiden Frauen über die Ebene und auf das gewaltige Gebirgsmassiv des Pandaras zu. Unter seinen kräftigen Beinen flog das Land in gleichmäßigem Wiegeschritt dahin.
Oona gönnte dem Laufvogel keine Rast. Schnell wurde klar, dass sie nicht anhalten würden, ehe sie ihr Ziel erreichten. So stieg die Sonne am Himmel empor, passierte den Zenit und neigte sich gen Westen, während die Landschaft ringsumher sich allmählich veränderte. Der weiche Wüstensand wich nach und nach einem harten, rissigen Boden, der mit großen Felsbrocken und Gesteinstrümmern übersät war. In deren Windschatten sammelte sich der rote Sand der Nunou zu kleinen Dünen. Die Natur war karg und trostlos. Nirgends zeigte sich eine Spur von Leben. Je näher sie den Bergen kamen, desto unwegsamer wurde das Gelände. Felsige Hügel reckten sich schroff in die Höhe und zwangen den Mahoui, große Umwege auf sich zu nehmen, um in weiten Bögen und Windungen die eingeschlagene südliche Richtung einzuhalten.
Maylea war erschöpft. Von der Kraft und dem Tatendrang, den sie am Morgen verspürt hatte, war nichts mehr geblieben. Schon im Verlauf des Nachmittags kehrten die Schmerzen zurück, und der ungewohnte Ritt mit seinen schaukelnden Bewegungen setzte ihr immer stärker zu. Je weiter sie sich den Bergen näherten, desto mehr Kraft musste sie aufwenden, um im Sattel zu bleiben.
Dazu kam die beißende Kälte.
Nach ihrer Entführung, der Gefangenschaft und der Flucht vor den Uzoma waren von Mayleas Gewand kaum mehr als nur zerschlissene Fetzen übrig geblieben, und die bunte, fein gewebte Decke, in die sie sich gehüllt hatte, vermochte den schneidenden Wind kaum noch abzuhalten, der ihnen von den Schneefeldern an
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