Das Erbe der Runen 2 - Die Feuerpriesterin
Platz in der Mitte der Menge zu, wo das Feuer brannte. Die zuckenden Flammen ließen gespenstische Schatten über die Gesichter der Umstehenden tanzen und warfen ein unstetes Licht auf ein halbes Dutzend Trommler, die am Rand des Platzes saßen und große Kriegstrommeln in monotonem Rhythmus schlugen. Die Münder der Krieger bewegten sich, doch wie schon das Dröhnen der Trommeln drangen auch die Worte nicht bis in die ferne Wüste vor. Obgleich die Szene stumm blieb, glaubte Vhara die gespannte Erwartung zu spüren, die die Krieger ergriffen hatte.
Etwas würde geschehen. Etwas Wichtiges. Etwas, das auch für sie von größter Bedeutung war.
Die Menge der Uzomakrieger teilte sich und gab eine Gasse frei. Alle Gesichter wandten sich dorthin, wo der schmale Durchlass in den freien Platz mündete. Vhara hielt den Atem an. Sie wusste noch immer nicht, was der Fremde ihr zeigen wollte, aber sie fühlte die wachsende Bedrohung, als stünde sie selbst inmitten der Uzoma.
Eine Bewegung am Ende der Gasse lenkte ihre Aufmerksamkeit wieder auf das Geschehen im weit entfernten Heerlager.
Zunächst sah sie nur aufwändig gearbeiteten Kopfschmuck aus bunten Perlen und prächtigen blauen Federn, der sich schwankend über die Menge hinweg durch die Gasse bewegte. Dann traten die Stammesfürsten der Uzoma paarweise auf den Platz hinaus, schritten auf das Feuer zu und stellten sich nebeneinander auf.
Kruin, den Vhara auf den ersten Blick erkannte, trat vor und hob gebietend die Arme. Was er zu den Kriegern sprach, konnte sie nicht hören, doch an den Gesichtern der Uzoma konnte sie lesen, dass jedes seiner Worte auf fruchtbaren Boden fiel. Jubel brandete auf, als er die Rede beendete. Fäuste wurden drohend in die Höhe gereckt, und stumme, weit aufgerissene Münder kündeten von lauthals vorgetragener Zustimmung. Auf ein Zeichen des Stammesfürsten hin verstummte die Menge jedoch sogleich, und alle Aufmerksamkeit richtete sich wieder auf die dunkle Gasse.
Endlose Augenblicke geschah scheinbar nichts, dann traten vier Uzoma aus der Gasse, die eine gefesselte Gestalt unter Schlägen und Tritten mit sich zerrten. Vhara sog erschrocken die Luft ein und umklammerte den Griff ihres Dolches noch fester. Obgleich der Kopf des Gefangenen mit einem Tuch verhüllt war, ließ die ausgeprägte Leibesfülle keinen Zweifel daran, wer dort wie ein räudiger Verräter auf den Platz geführt wurde.
Othon!
Die Hohepriesterin konnte nicht glauben, was sie mit ansehen musste, dennoch spürte sie tief in ihrem Innern, dass es kein Trugbild war. So wie die Kaziken ihr die Schuld für die Niederlage des Heeres und die daraus erwachsende Verzweiflung gegeben hatten, so hatten die Stammesfürsten nun in Othon ihren Schuldigen gefunden. Vhara erschauerte. Sie kannte die Strafe, die auf Verrat stand. In den Wintern ihrer Regentschaft war das Urteil Hunderte Male gefällt worden. Die Blutaltäre des Meisters forderten täglich ihren Tribut, und ein Verrat war leicht vorgeschoben.
Es erschien ihr wie blanker Hohn, dass Othon nun ein Opfer seiner eigenen Gesetze werden sollte. Der Whyono war für Vhara nie mehr als eine nützliche Figur im Spiel der Macht gewesen. Mochte er am Anfang noch einen netten Zeitvertreib abgegeben haben, so war er ihr am Ende doch nur noch lästig gewesen. Ein verweichlichter Fleischberg, für den sie nichts als Abscheu empfunden hatte. Mehr als einmal hatte sie sein Ende herbeigewünscht, doch jetzt, da es ihm bevorstand, empfand sie keine Genugtuung. Othon hätte ihr als Befehlshaber des Heeres noch gute Dienste erweisen können. Ohne ihn waren die Truppen der Uzoma für sie endgültig verloren.
Mit versteinerter Miene beobachtete sie, wie Krieger eines der Stützwerke herbeischafften, die eigens für die öffentliche Hinrichtung von Verrätern gezimmert worden waren.
In Todesangst gebärdete sich Othon wie wild und versuchte vergebens, sich aus den kräftigen Griffen seiner Henker zu befreien und die Fesseln zu sprengen. Fast glaubte Vhara seine Schreie zu hören. Doch das Bild blieb stumm. Ein Mantel des Schweigens bedeckte gnädig alle Geräusche.
Als das Stützwerk aufgestellt war, setzte der Trommelschlag wieder ein. Die Arme der Trommler hoben und senkten sich im Gleichklang, während man Othon unter den großen Querbalken des hölzernen Gerüsts führte. Sechs Krieger waren fast zu wenig, um den tobenden Whyono an den Handgelenken und Fußknöcheln zu binden, ehe er mit den Füßen voran nach oben gezogen wurde.
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