Das Erbe der Runen 2 - Die Feuerpriesterin
zu. Ohne ihn würde sie mehr als doppelt so viele Nächte in der Wüste verbringen müssen. Oder noch länger, denn ihre gewohnten Kräfte waren nach dem anstrengenden Ritual noch nicht vollständig zurückgekehrt. In Udnobe hätte sie die Folgen kaum gespürt, denn dort hätte sie die nötigen magischen Mittel besessen, die Auszehrung ihres Körpers auszugleichen, doch Udnobe war weit entfernt, und so konnte sie nur darauf hoffen, dass das Gefühl der Schwäche bald verging.
Das grelle Sonnenlicht blendete Vhara, als sie sich erhob und eine der Packtaschen mit der Habe füllte, die sie nicht zurücklassen wollte. Der Opferdolch lag unmittelbar neben dem Pferdekadaver. Als sie sich bückte, um ihn aufzuheben, scheuchte sie eine Aasfliege auf, die sich auf dem getrockneten Blut niedergelassen hatte. Vhara verzog angewidert das Gesicht. Doch dann stutzte sie und sog die blutschweißige Luft noch einmal mit kurzen Zügen ein.
Seltsam.
Die Hohepriesterin hielt mitten in der Bewegung inne. In die strengen Ausdünstungen mischte sich noch ein anderer, ihr vertrauter Geruch – Ecolu!
Das scharfe Gebräu aus wildem Emmer war von den Uzoma ursprünglich nur bei rituellen Feierlichkeiten getrunken worden. Inzwischen jedoch waren vor allem die Krieger des Heeres der berauschenden Wirkung zugetan, hieß es doch, Ecolu könne die Furcht besiegen und den Mut stärken.
Die Uzoma sind mir gefolgt!, schoss es Vhara durch den Kopf. Die Kaziken gehen kein Wagnis ein. Sie wollen ganz sicher gehen, dass ihr teuflischer Plan aufgeht. Wenn sie mich hier lebend vorfinden … In einer blitzschnellen Bewegung griff Vhara nach dem Dolch, doch die Reaktion kam den Bruchteil eines Augenblicks zu spät.
Kurz bevor ihre Hand den Griff des Dolches berührte, wurde dieser wie von Geisterhand davongeschleudert und bohrte sich einige Schritte entfernt in den Sand. Gleichzeitig verfinsterte sich die Sonne, und ein dunkler Schatten wuchs drohend über ihr in die Höhe.
Vhara erstarrte. Mit angehaltenem Atem beobachtete sie, wie sich der düstere Schattenriss langsam weiter vergrößerte.
Uzoma!
Ihr Herz raste. Wer immer sich ihr näherte, hatte den Augenblick gut gewählt. Noch litt sie unter den Folgen des Weitsicht-Rituals und fühlte sich nicht in der Lage, ihre mentalen Fähigkeiten wie gewohnt zur Gegenwehr einzusetzen. Ohne diese Kräfte, ohne ihren Stab oder eine Waffe war auch sie verwundbar. Und zum ersten Mal, seit sie in die Dienste des einzigen Gottes getreten war, fühlte sie sich schutzlos und ausgeliefert.
Geräuschlos wie ein Geist bewegte sich die Gestalt auf sie zu. Die tief stehende Sonne verzerrte den Schatten zu unnatürlicher Länge. Mit bedrohlicher Langsamkeit wuchs er über den Pferdekadaver hinaus und schob sich noch ein Stück weit über den Sand, ehe er innehielt.
Lautlos!
Nie zuvor hatte Vhara erlebt, dass ein Uzoma sich auf diese Weise bewegte. Nicht einmal die Krieger der Tempelgarde hatten es in der Kunst des Anschleichens auch nur entfernt zu einer solchen Perfektion gebracht. Selbst in Andaurien gab es nur wenige, die …
Ajabani!
Der Gedanke an den geheimen Bund des »lautlosen Todes« jagte Vhara einen eisigen Schauer über den Rücken. Einen Uzoma hätte sie vielleicht noch einschüchtern können; einen Ajabani jedoch …
Vhara spürte, wie die Furcht erneut nach ihr griff, ließ jedoch nicht zu, dass sie zur Triebfeder ihres Handelns wurde. Überleben konnte nur, wer Stärke zeigte. Für einen winzigen Augenblick zögerte sie noch, dann ballte sie die Fäuste, holte tief Luft und wandte sich der Gestalt zu.
»Wer bist du, und was willst du von mir?«, fragte sie, und selbst in dieser heiklen Lage gelang es ihr, die wahren Empfindungen hinter einer Maske aus Geringschätzung zu verbergen. Übergangslos fand sie in die Rolle der mächtigen Gebieterin zurück, in die sie vor vielen Wintern geschlüpft war, um das Volk der Uzoma zu beherrschen. Sie wirkte besonnen, kühl und furchtlos. Nicht das kleinste Zucken in ihrem Gesicht verriet, wie aufgewühlt und verunsichert sie in Wirklichkeit war.
Noch während sie sich aufrichtete, stellte sie erstaunt fest, dass es weder ein Ajabani, noch ein Uzoma war, der ihr im Licht der sinkenden Sonne gegenüberstand. Der Mann – Statur und Haltung ließen keine Zweifel daran aufkommen, dass es sich um einen solchen handelte – war in einen bodenlangen dunklen Mantel gehüllt. Unter seinem Hut quollen Strähnen schulterlanger schwarzgrauer Haare hervor, doch eine
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