Das Erbe der Töchter: Roman (German Edition)
los.
»An mich denkst du nie«, murmelte er. »An uns denkst du nie.«
Wirklich?
Cari betrat hinter Dan den Hausflur. Jetzt wusste sie, was sie zu tun hatte. Es war nur fair. »Dan, vielleicht …«
»Lass gut sein!«, sagte er und fasste sie bei den Schultern.
Sie sah ihn durchdringend an. Seine Augen wirkten zornig.
»Fahr nach Italien«, sagte er. »Tu, was du tun musst! Aber gib mir bloß nicht den Laufpass, ehe du verschwindest.«
Cari seufzte. Sie hob den Kopf, um ihm einen Kuss auf die Wange zu drücken. »Natürlich nicht.« Obwohl ihr die Worte auf der Zunge gelegen hatten.
Sie wandte sich um, kramte den Wohnungsschlüssel hervor und steckte ihn in das Schloss. Ach, Dan … Sie waren beide nun wirklich schon lange zusammen. Er hatte Recht. Sie hatten mehr als das verdient. Sie würde nach Italien fahren. Fern von Dan, fern von Marco würde sie sich vielleicht über ihre Gefühle klarer werden.
Italien. Es lockte sie unaufhaltsam. Sie musste dorthin. Es blieb ihr kaum eine andere Wahl.
Aurelia spazierte durch das Labyrinth aus Oleander und Jasmin, wo sie nachdenken und ihren Gedanken freien Lauf lassen konnte. Der aromatische Duft des in bestimmten Abständen entlang des Weges gepflanzten Thymians mischte sich mit dem schweren Aroma des Jasmins, der salzigen Meeresbrise und dem Geruch nach warmer Ciabatta, der aus La Sirena herüberwehte.
Sie hatte heute ein Bild in Angriff genommen, mit dem sie sehr zufrieden war und das sie »Das Labyrinth in der Abenddämmerung« genannt hatte. Damit war alles gesagt. Sie hatte in ihrem Atelier mit seinen wunderbar großen, der Parkseite zugewandten Fenstern gesessen, mit Blick auf den Irrgarten und den türkisfarbenen Golf von La Spezia mit den glatten, glänzenden Felsen und den von ihr so sehr geliebten Kiesstränden. Sie sah die freundlich leuchtenden Fassaden der Häuser von Tellaro, die an das seichte Ufer grenzten. Unvermittelt konnte das Meer zu einem tiefen, gefährlichen Gewässer werden, sobald die Strömung einen forttrieb. Geradezu heimtückisch, dachte Aurelia.
Auf der Staffelei wartete ihr Werk auf die letzten Pinselstriche. Es liegt am Licht, dachte Aurelia, während sie ihre Farbpalette vorbereitete. Der Trick, den sich das Licht erlaubt, wenn die Dämmerung einsetzt, die Schatten länger werden und sich ein Gefühl von Vollendung, Endgültigkeit und Vergebung einstellt.
Natürlich suchte sie genau danach, selbst jetzt. Nach der Vergebung ihrer Tochter. Vergebung und Verständnis – wertvolle Geschenke.
Während sie malte, dachte sie an ihre ersten Aquarelle auf der Promenade von Brighton, einem völlig anderen Meerespanorama als das, was ihr der Blick aus dem Atelierfenster unter dem Dach von La Sirena bot. Nicht allein die himmlische Aussicht machte diesen Raum so außergewöhnlich, der früher Catarina als Salon gedient hatte.
Was mag sie hier getan haben?, überlegte Aurelia, während sie weiterarbeitete. Verfolgten sie schreckliche Träume von einem Ehemann, der sie längst nicht mehr begehrte? Hingen ihre Gedanken nach wie vor in diesem Zimmer, von den Steinwänden aufgesogen, in Mörtel gebettet, dem Mobiliar einverleibt? Und falls dem so war, warum konnte Aurelia sie dann nicht entziffern? Es war ein Raum, der eine meditative Aura verströmte. Ein Raum ohne negative Atmosphäre, die ihre Arbeit sicher empfindlich gestört hätte.
Während sie nun durch das Labyrinth spazierte, fielen ihr die Tage in Brighton wieder ein, sah sie Tasmin im Kinderwagen liegen und später die Lower Esplanade neben den King’s Road Arches hinauf- und hinunterstapfen, dort, wo Aurelia des Öfteren ihre Staffelei aufstellte und zu malen pflegte. Tasmins blonde Locken tanzten in der Meeresbrise, die kleinen Hände waren zu Fäusten geballt. »Lass mich malen, Mummy, lass mich malen!«, quengelte sie.
Aurelia lenkte die Gedanken noch weiter zurück und dachte an Hester und die Ferien, in denen jeder Tag mit Abenteuern und zahllosen tollen Einfällen ausgefüllt gewesen war. Hester hatte stets zwei Malblöcke in der Picknicktasche mit sich getragen, und sie sammelte unterwegs die unterschiedlichsten Dinge – einen Stein mit ungewöhnlichen Einkerbungen, einen vielfarbigen Strang Seetang in Port Isaacs Angelbucht; Glockenblumen im Wald nahe der Farm; eine Vogelfeder, ein Stück Treibholz, einen lohfarbenen Pilz oder ein zartes Blatt. Später – entweder im Schneidersitz am Strand, Hester im Liegestuhl oder im Wald auf einem Baumstumpf sitzend – begannen
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