Das Erbe der Töchter: Roman (German Edition)
sie gesehen … Lass mich nachdenken.«
»War es Süditalien?«, bohrte Cari weiter. Vielleicht verlor Dorrie ja den Faden.
»Toskana!« Dorrie erinnerte sich. »Ich hatte mir eine Sendung darüber im Fernsehen angesehen und dachte: Dorthin ist sie gefahren. Ich bin mir ganz sicher.«
»Machen Sie sich keine Gedanken, dass Sie sich nicht genauer erinnern!«, beruhigte Cari sie. Doch vorsorglich zählte sie Städte der Toskana auf. »Florenz, Pisa, Siena …«, Namen, die man mit Kirchen, Deckenmalerei und Renaissance-Kunst, sanften Hügelketten, Olivenhainen und Sonnenblumenfeldern in Verbindung brachte.
Kaum hatte Cari sich endgültig dazu durchgerungen, hätte sie sich am liebsten auf der Stelle auf die Reise gemacht. Ruhelos war sie durch die Straßen von Brighton gelaufen. In Gedanken stand ihr Koffer schon zum Aufbruch bereit. Die Welt – ihre Welt – nahm sie nur noch vage auf, als sei ein Teil von ihr bereits unterwegs. Ob sich Aurelia so gefühlt hatte, damals, 1974?
Cari blätterte in ihrem Terminkalender, informierte ihre Kunden und nahm keine Aufträge mehr an. Sie hatte Glück – eine ihrer Freundinnen aus der Branche wollte das Atelier übernehmen. Sie würde sich einarbeiten, die Kunden weiter betreuen und Cari die Ladenmiete erstatten. Der Gewinn würde an sie gehen, während sie im Gegenzug alle fälligen Rechnungen begleichen würde. Perfekt.
»Nein, nein, Schätzchen. Falsch, ganz falsch.« Scharfe Falten gruben sich in Dorries Stirn.
Cari betrachte erneut die Karte. »Bologna, Lucca …«
»Das ist es!«
»Was ist es?«
»Lucca.« Dorrie schien sehr zufrieden mit sich zu sein. »Ein neugieriger Beobachter hat es mir zugetragen.«
»Ach. Ich verstehe.« Vollkommen klar! Cari lächelte. Gewitzte Dorrie!
»Das war 1974«, sagte Dan. »Ich bitte dich, Cari, du glaubst doch nicht etwa an Märchen.«
»Hat sie nicht auch daran geglaubt?« Manchmal wünschte sie, es wäre so gewesen. »Vielleicht ist sie noch dort. Es ist immerhin einen Versuch wert.« Früher hatte er sie viel stärker unterstützt. Er hatte immer voll und ganz hinter ihr gestanden. Aber jetzt … Er war nicht einmal mehr auf ihrer Wellenlänge.
»Es ist deine Entscheidung, okay?« Böse funkelte er sie an. »Wenn du unbedingt deine Zeit verplempern willst …«
»Zeit verplempern«? Selbst wenn sie ihre Großmutter nicht würde finden können – was, zugegebenermaßen, ziemlich wahrscheinlich war –, würde sie doch wenigstens durch dieselben Straßen laufen, die gleichen Dinge sehen, eine ähnliche Atmosphäre aufsaugen, wie Aurelia sie in all den Jahren eingeatmet hatte. Mehr brauchte sie nicht. Cari würde ihren Besuch in Italien als langen Urlaub betrachten und auf den Spuren ihrer Großmutter wandeln. Sie würde nur das Foto mitnehmen und das Beste hoffen. Vielleicht gab es ja einen Weg … Verschwunden geglaubte Personen tauchten manchmal wieder auf, nicht wahr? So etwas hörte man immer mal wieder.
»Nichts bringt mich mehr davon ab, Dan«, sagte sie. »Mein Entschluss steht fest.« Sie beobachtete ihn, als er um die Rechnung bat. Er schien ihr den Freiraum, den sie dringend benötigte, nicht zugestehen zu wollen. Vermutlich hatte er Angst. Zu gern hätte sie den Arm ausgestreckt und seine Hand gedrückt, aber irgendetwas hielt sie davon ab. Auch sie hatte Angst.
Er warf einen Blick auf die Rechnung und knallte seine Kreditkarte auf den Tisch. Als sie nach ihrem Portemonnaie griff, schob er ihre Hand fort.
Der dunkelhäutige Kellner mit den freundlichen braunen Augen nahm die Karte und kam nach einer Minute mit dem Zettel für die Unterschrift zurück.
»Nur das zählt.« Dan erhob sich. Sein Stuhl scharrte über den Boden.
»Was?« Cari trat aus dem Restaurant. Weshalb war er denn bloß so verärgert? Sie verließ ihn doch nicht endgültig.
»Du, du, du … Nur deine Wünsche zählen!«
»Hä?« Was sollte das denn heißen? Sie folgte ihm hastig in der Dunkelheit, als er auf eine Fußgängerampel zusteuerte.
Kaum hatte er davor Halt gemacht, packte sie ihn am Arm. »Was redest du da überhaupt?« Vor einem Hamburger-Lokal mit Neonreklame standen ein paar blödelnde Halbwüchsige. Die Straßenlaternen beleuchteten den feuchten Gehsteig. Offenbar hatte es geregnet, während sie in dem Lokal gesessen hatten. »Dan.«
Als die Ampel auf Grün sprang, überquerte er rasch die Straße, während Cari nach wie vor an seinem Arm hing. Was tat sie da eigentlich? Und wie verhielt er sich? Sie ließ ihn
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