Das Erbe der Vryhh
Po’ Annutj, die Bernsteinsucher gegen die Pajungg und den Ajin.
Die nach wie vor auf ihrer Schulter ruhende Hand dirigierte sie fort vom durch das ganze Gebäude verlaufenden Hauptkorridor und schob sie in einen Nebengang, der aus dem Haus herausführte und in den Berg hineinreichte. Sie dachte an den Haß, den der Ajin Linfyar entgegenbrachte, dem Jungen, der ganz offensichtlich einer anderen Art angehörte, den er vielleicht als ein hübsches kleines Tier ansah, das fähiger war, als ihm zustand. Was mochte der Ajin unternehmen, wenn er sich Avosing ganz unterworfen hatte und mit dem Po’ Annutj konfrontiert wurde? Immer tiefer in den Berg hinein ging es, bis in Shadith das Gefühl entstand, sich auf einem Untergrund zu bewegen, der nicht mehr war als eine dünne und zerbrechliche Schicht über glutflüssigem Magma, bis sie den Eindruck gewann, es genüge nur ein beiläufiges Schulterzucken, um sie in das brodelnde Lavaherz des Vulkans stürzen zu lassen.
Sie schauderte.
Der Ajin klopfte ihr auf die Schulter. »Es ist nicht mehr weit«, sagte er. »Ich möchte dich in meiner Nähe wissen, um sicher zu sein, daß dir kein Leid geschieht.«
Sie antwortete ihm erneut mit dem zögernden und kindlichen Nicken, sagte aber nichts. Er behandelt mich wie das kleine Mädchen, das er in mir sieht, dachte sie. Spielt sich als zwar freundlicher, doch strenger Vater auf. Ha! Einen Vater brauche ich ebenso dringend wie einen zweiten Kopf. Sie hatte zu lange in der Gesellschaft Harskaris gelebt, um sich einen zweiten Mentor zu wünschen. Und erst recht lag ihr nichts an dem aufgeblasenen und eingebildeten Windbeutel, den man Ajin nannte und der beabsichtigte, sie und ihre Talente für seine eigenen Zwecke zu nutzen. Dort draußen in der Bucht habe ich mich nicht geirrt. Er ist nichts weiter als ein leeres Etwas, nur belebt von seinen Machtgelüsten, ohne eine echte Verbindung mit dieser Welt. Wir anderen sind für ihn nur Schatten auf seinen Begierden. Sie dachte an Perolat und Tjepa. Sie stellte sich vor, wie sich der Ajin mit Kell verbündete, der ihm als Gegenleistung für seine Hilfe Unterstützung bei der Verwirklichung der Umsturzpläne zusicherte. Ich wette, Kell hat ihm diese Basis gebaut und auch ausgestattet. Wo mag sich die Falle befinden? Und woraus besteht sie? Taggert . . . dachte sie. Ich hoffe, du hast dir deine Vorgehensweise genau überlegt. Ein weiterer Jäger in der Falle.
Brächte das Kell hierher zurück? Himmel, hoffentlich nicht. Ich hätte nicht die geringste Chance gegen ihn.
Der Ajin preßte die Handfläche auf einen Scanner. Die Tür vor ihnen öffnete sich, und der Mann schob das Mädchen in das Zimmer. Eine der Wände bestand aus einem großen Holofenster, das eine Berglandschaft mit hohen Bäumen zeigte, die erhabene und stumme Pracht des Waldes. Sonnenschein drang hier und dort durch die hohen Wipfel, und fledermausartige Vögel segelten zirpend dahin. Aus verborgenen Lautsprechern klangen waldtypische Geräusche, leise und zauberhaft. Bunte Vorhänge bedeckten den kalten Fels der schwarzen Steinwände. Der Boden bestand aus trübem Metabeton; ein seidener Läufer verhüllte das schlichte Grau, und seine Muster entsprachen denen der Tapisserien. Ein Tisch aus dunklem Glas, darauf mit dampfenden Speisen gefüllte Teller aus dem gleichen Material, Cha in einer Kanne, über die ein gefütterter Wärmer gestülpt war. Sessel mit stählernem Rahmen und schwarzen Lederpolstern. Ein Sofa aus schwarzem Samt, an den Rückenlehnen farbenprächtige Seidenkissen. Ein auffallend geschmackloses Zimmer, eingerichtet von jemandem, der eine Vorliebe für bunte Farben hatte und dem es nicht so sehr auf Stil ankam. Der Ajin wich zur Seite, um Linfyar eintreten zu lassen, begab sich anschließend in die Mitte des Raumes. »Dies ist deine Unterkunft, Sängerin. Schlafzimmer und Hygienezelle befinden sich dort drüben.« Er deutete auf einen schwarzen Samtvorhang. »Ruh dich aus und komm wieder zu Kräften. Ich kehre morgen zurück, um mit dir zu sprechen. Mach dir keine Sorgen. Hier wird dir niemand etwas antun. Entspanne dich. Bald erkläre ich dir alles.« Er bedachte Shadith mit einem strahlenden Lächeln, wobei in seinen Augen Gutmütigkeit und Sympathie funkelten, und kurz darauf verzog er bedauernd das Gesicht und vollführte eine entschuldigende Geste. »Die Tür wird die ganze Zeit über verschlossen sein - das ist leider notwendig. Zu deinem eigenen Schutz, mein Kind. Einen anderen Grund dafür gibt es
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