Das Erbe der Vryhh
ihrer Unruhe.
Sie sah sich um, als sie hörte, wie die Tür mit einem leisen Zischen aufschwang, verzog das Gesicht und richtete den Blick wieder auf den Schirm, wobei sie in ihrer Melodie einige disharmonische Klänge ertönen ließ.
Der Ajin lachte schrill, schritt an sie heran, zog die Harfe aus ihren Händen, warf sie aufs Sofa und zerrte das Mädchen auf die Beine.
Für einige Sekunden verschlug es Shadith die Sprache. Sie war so wütend, daß sie das Gefühl hatte, es zöge sich eine Schlinge um ihren Hals zusammen, so zornig, daß sie nur still und zitternd vor dem großen Mann stehen konnte. Sie starrte ihn wortlos an. Als sie sich wieder zu bewegen vermochte, trat sie auf das Sofa zu, nahm die Harfe an sich und strich behutsam über die Saiten und den Rahmen. Sie bückte sich, legte das Instrument auf den Boden und näherte sich langsam dem Ajin. »Tu das nie wieder«, sagte sie leise. »Wenn du die Harfe noch einmal anrührst, bringe ich dich um.«
»Du solltest nicht so frech sein, Mädchen.«
Shadith starrte ihn nur an und schwieg.
»Nette kleine Mädchen vertreiben sich nicht die Zeit damit, irgendwelche Leute umzubringen. Haben dich deine Eltern das nicht gelehrt?«
Sie blickte ihn weiterhin an, noch immer voller Wut. Allmählich aber beruhigte sie sich und war wieder dazu imstande, einen klaren Gedanken zu fassen. Sicher, sie konnte sich erneut als schüchternes Kind geben - doch hatte das jetzt noch einen Sinn? Sie beobachtete das eigentlich so freundlich wirkende und lächelnde Gesicht und veneinte diese Frage. Ebensogut könnte ich nun festzustellen versuchen, wie sehr er mich zu benötigen glaubt. Wenn ich ihm das jetzt durchgehen lasse, wird er demnächst immer unverschämter. »Sie haben mich viele Dinge gelehrt«, erwiderte Shadith so scharf und kühl wie möglich. »Sie lehrten mich, es sei dumm und unhöflich, ohne Erlaubnis in den Sachen anderer Personen herumzustöbern.«
Sie sprach rasch weiter und unterbrach den Ajin damit im Ansatz. »Sie lehrten mich, daß Entführer gemeine Schufte und Männer, die Mädchen verschleppen, noch schlimmer sind als perverse Hurenschänder. Sie lehrten mich, daß ehrenwerte Personen andere Männer und auch Frauen und Kinder mit dem Respekt behandeln, den sie für sich selbst erwarten - und diejenigen, die sich anders verhalten, seien nichts weiter als armselige und arrogante Nachäffer.«
Der Ajin trat einen Schritt auf sie zu, hob die Hand, beherrschte sich jedoch. Shadith wußte ganz genau, was nun in ihm vor sich ging; sie empfing seine Gedanken so deutlich, als sei ein kleiner Lautsprecher in seine Stirn integriert. Ach, ganz gleich, was sie auch sagt: Sie ist doch nur ein törichtes kleines Mädchen, das gar nicht weiß, wovon es eigentlich spricht. Und außerdem hört sonst niemand zu. Er kniff die Augen zusammen, und aufgrund des Mienenspiels interpretierte Shadith den Zusatz: Aber sorg dafür, daß sie sich solche Frechheiten nicht in der Gegenwart der anderen herausnimmt. »Komm schon, Mädchen«, sagte er laut. »Reg dich ab. Das mit der Harfe tut mir leid. Offen gestanden: Ich wußte nicht, wie wichtig das Instrument für dich ist.« Er klopfte ihr auf die Schulter, dessen uneingedenk, wie schwer es ihr fiel, seine Hand nicht einfach zur Seite zu stoßen. »Bitte setz dich. Ich habe dir für heute eine Erklärung versprochen, und deshalb bin ich hier. Ah, gut.« Er lächelte, als sie fortwich und auf dem Sofa Platz nahm. »Wir sind keine Entführer, Mädchen. Auch keine perversen Hurenschänder. Wir kämpfen für die Zukunft Avosings, Mädchen, ringen darum, den Tyrannen von dieser Welt zu vertreiben. Ich möchte dir zeigen, was uns die Pajungg antun. Es sind nicht gerade sehr hübsche Dinge, und wenn sie die Welt beschrieben, die mir vorschwebt, so würde ich dich nicht mit ihnen konfrontieren. Aber es kommt mir darauf an, daß du uns verstehst. Du weißt ja, was die Pajungg in Keama Dusta mit dir vorhatten. Du erinnerst dich sicher daran, auf welche Weise dir der Hiepler drohte. Wir bewahrten dich vor dem Schrecken, mit dem ich dich jetzt vertraut mache.« Die Stimme des Ajin war düster und zeichnete sich durch eine dumpfe Eindringlichkeit aus - ein beschwörendes Murmeln, das sie für ihn einnehmen sollte. Doch für Shadith hatte dieser Klang nichts Angenehmes an sich, denn sie war sich viel zu sehr der Abscheu ihm gegenüber bewußt. Zur Hölle mit seinem rhetorischen Talent, dachte sie. Ich ßnde nicht einmal mehr an meinen
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