Das Erbe der Vryhh
entwickelte sich inzwischen rasch zu einem ausgeprägten empathischen Sinn, und Shadith wußte nicht so recht, ob sie dar
über froh sein sollte. Es gab Dinge, von denen sie überhaupt nichts wissen wollte, und sie hielt nichts davon, daß die Gefühle anderer Personen - beziehungsweise deren Mangel an solchen Empfindungen - sie belasteten.
Es lag ihr nichts daran, mit der Xenophobie des Ajin vertraut zu werden. Nein, verbesserte sich Shadith, das war nicht ganz richtig ausgedrückt. Es ging nicht darum, damit vertraut zu werden. Sie spürte den Haß des Mannes; er war wie stinkender Schleim, der ihr über den Körper rann. Ich muß daran denken, Lee zu fragen, wie sie derartige Emanationen abschirmt. Himmel! Was sie jetzt wohl macht? Der Ajin legte ihr die Hand auf die Schulter. Shadith versteifte sich ein wenig - sie konnte nicht anders -, doch offenbar hielt er diese Reaktion für normal.
»Komm, Mädchen«, sagte er, lockte sie mit jener Stimme, die wie dunkler Samt war, der ihre Sinne zu streicheln versuchte. Mit sanftem Nachdruck zog er sie in Richtung des Bootes und ging neben ihr, während Linfyar ihnen in einigem Abstand folgte. »Das alles tut mir leid.« Vorsichtig berührte er ihre verbundenen Handgelenke. »Wenn du erst den Grund dafür verstanden hast, vergibst du uns bestimmt.«
Shadith reagierte mit einem kurzen und zögernden Nicken - ihr Äquivalent für das pathetische Wimmern Linfyars. Und ob, o mächtiger Eroberer; ich bin nichts weiter als eine kleine und schüchterne Sängerin, die ganz verwirrt ist von deiner ach so eindrucksvollen Präsenz.
Der Ajin gab sich als eine körperliche Manifestation von Freundlichkeit, Güte und Besorgnis. Er ließ Linfyar und Shadith vor dem Ruderhaus auf weichen Kissen Platz nehmen, hüllte sie in warme Decken, brachte ihnen Becher mit warmem und würzigem Cha. Das uralte Bewußtsein im Körper des jungen Mädchens mißtraute ihm nach wie vor, befürchtete, das Getränk könne eine Droge enthalten, die sie benommen machte und verhinderte, daß sie sich über den Kurs des Bootes klarwurde. Wenn die Götter des Schicksals ihr keinen Streich zu spielen gedachten, mußten sie jetzt eigentlich nach der Hauptbasis des Ajin unterwegs sein. Sie trank.
Der Cha war heiß und erfrischend - und hatte einen leichten Nachgeschmack, der ihr bewies, daß ihre Vermutung der Wahrheit entsprach. Ha! Erfreu dich nur an deinem Spiel. Mir ist es völlig schnuppe, in welche Richtung die Reise geht. Es kommt mir nur darauf an, das Ziel zu erreichen. Linfyar roch an dem Tee. Shadith beobachtete, wie die Ohren des Jungen zitterten und er den Becher unmittelbar darauf mit einem Zug leerte, so als ahne er überhaupt nicht, was er enthielt. Er setzte ihn ab und begann leise zu singen eine melancholische Liebesmelodie aus seiner Heimatstadt, gerade laut genug, damit sein reiner und klarer Sopran eine Einheit bilden konnte mit dem Flüstern des Windes, dem Rauschen des Wassers und dem dumpfen Summen des Motors. Nach einer Weile unterbrach er sich mehrmals mit einem Gähnen, rollte sich schließlich zusammen, stützte den Kopf auf den Schoß Shadiths und schlief ein.
Shadith leerte den Becher ebenfalls und stellte ihn beiseite. Sie lehnte sich an die hölzerne Wand des Ruderhauses zurück und fühlte sowohl im Rücken als auch an den wunden Schultern ein leichtes und vom Motor bewirktes Vibrieren. Nach einer Weile schien es ihren ganzen Körper zu erfassen und machte sie mindestens ebenso müde wie die Droge im Cha. Plötzlich stand Aleytys an der bugwärtigen Reling und lächelte sie an, nur um sich einen Sekundenbruchteil später in eine fransige Nebelschwade zu verwandeln. Schläfrig beobachtete sie, wie der Ajin nach dem Becher Linfyars griff und ihn über Bord warf, verschwendete jedoch keine Kraft damit, zornig zu werden. Der Ajin war ein Nichts. Er spielte überhaupt keine Rolle, nicht mehr. Ein unwirkliches Trugbild. Ein Traum. Eine Vision, ja. Die Nebelaleytys am Bug - sie war realer als du. Real, oh, real. Bin ich real? Eine Stimme in Lees Kopf, eine Ansammlung geistiger Energien in einer uralten Seelenfalle. Jetzt habe ich einen Körper. Der ist real. Will mich vergnügen mit diesem Körper, will erst ruhen, wenn er alt ist, alt. Hast du gehört, Körper? Wenn du alt bist, alt, alt.
>Hallo, Seltsamkeit.<
»Hallo, redseliger Wald.< Shadith gab ein leises mentales Lachen von sich. >Ausgerechnet du bezeichnest mich als seltsam?<
>Du planst etwas.<
>Plan, Plan - ich habe
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