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Das Erbe der Vryhh

Das Erbe der Vryhh

Titel: Das Erbe der Vryhh Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jo Clayton
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Nachdem sich die Tür hinter ihm geschlossen hatte, blieb Shadith noch eine Zeitlang reglos sitzen, schloß die Augen und preßte die Hände fest auf die Oberschenkel. Sie unterzog sich einigen Atemübungen, um sich zu beruhigen, den Geist zu klären und den Sturm aus Freude, Furcht, Haß und Zorn unter Kontrolle zu bringen, der in ihr tobte. Schließlich seufzte sie und lehnte sich an die Kissen zurück. Taggert, wo, bei allen Teufeln der Hölle, steckst du? Grey lebt tatsächlich, aber er … Oh, Himmel, ich muß ihn da rausholen. Ticutt, armer alter Ticutt - ich kann mir deine Qual vorstellen. Was soll ich jetzt nur machen? Hätte nie gedacht, daß ich die zänkische Hexe vermissen würde; ach, Harskari, wärst du jetzt nur bei mir! Ich werde dir nie erzählen, wie sehr ich mich nach dir sehnte, aber … Himmel, ich könnte jetzt wirklich deine Hilfe brauchen.
    Sie warteten auf Shadith, nervös und fast feindselig, fortgeholt von Kartenspielen, aus dem Schlaf gerissen, hervorgezerrt hinter Bildschirmen und Scannern, aus ihren privaten Unterkünften -die Söldner der Leibgarde des Ajin, der Kader seiner Armee und die meisten der Techniker, die in den getarnten Gebäuden wohnten und arbeiteten. Fortgebracht von den Vergnügungen, die sie vielleicht gerade genossen hatten, in das tückische Draußen befohlen, um dort dem Gesang eines flachbrüstigen kleinen Mädchens zu lauschen.
    Der Ajin beobachtete die Versammelten und lächelte. »Wenn du sie beeinflussen kannst, kleine Shadith, bist du besser als nur gut.
    Sieh sie dir an - unruhig und aufgebracht sind sie.« Er runzelte die Stirn. »Söldner. Hartgesottene Männer. Gute Kämpfer. Aber sie zögern immer einen Sekundenbruchteil länger als diejenigen, die für etwas streiten, an das sie fest glauben. Sie sind hier, weil sie bezahlt werden, und Tote können mit Geld nichts anfangen.«
    »Leute meines Schlages«, murmelte Shadith.
    Der Ajin lachte nicht. »Bring sie dazu, Avosing zu lieben«, sagte er. »Veranlasse sie dazu, mich zu bejubeln und mir ins Feuer zu folgen.«
    »Die Wirkung wird nicht lange anhalten.«
    »Aber du wärst dazu imstande?«
    »Ich kann es nur versuchen.«
    »Denk daran, wofür du arbeitest. Denk an die fünf Kilo Süßen Bernstein.«
    »Ich weiß.« Sie rückte die Harfe zurecht und bereitete sich darauf vor, eine erste Melodie zu spielen. Dann zögerte sie und hob noch einmal den Kopf. »Vergiß nicht, was ich eben sagte. Der Effekt läßt rasch nach.«
    »Spiel.«
    »Bist du fertig, Linfy?«
    »Ja, Schatten.«
    Sie stieß ihn behutsam mit der Stiefelspitze an. »Diesmal müssen wir besonders gut sein.«
    »Ist klar.«
    Sie warf dem Ajin einen letzten Blick zu und stellte fest, daß er ihr zumindest soweit glaubte, um es für besser gehalten zu haben, sich mit einem Nasenfilter und Ohrenstöpseln zu schützen. Zu bejubeln, dachte Shadith. Verdammnis und Verheerung - mir bleibt keine andere Wahl. Sie vergaß das Lied, das sie eigentlich zu singen geplant hatte, ging ihren Melodienvorrat noch einmal durch.
    Na schön, ein Lied des Kampfes und Ruhmes - ich spinne den Ajin in einen solchen Harmonienkokon; das müßte die gewünschte Wirkung erzielen.
    Sie begann auf der Harfe zu spielen, erzeugte dünne und hohe Töne, die vom Wind dahingeweht wurden, gestaltete die Melodie dann komplexer und volltönender, als Linfyar sich der Stimmung anpaßte und pfiff. Shadith konnte fast körperlich spüren, welchen Widerstand ihr die Männer entgegensetzten. Sie verachteten sie noch immer, waren entschlossen dazu, sie mit ihrer Gleichgültigkeit zu strafen. Doch das Mädchen lächelte nur still vor sich hin und stimmte ein süßes Wehklagen an, formulierte die alten Worte, gab den Silben all die Macht, die sie in ihnen zum Ausdruck zu bringen vermochte. Unmittelbar darauf manifestierten sich die Schwestern Shadiths vor ihr, geisterhafte Gestalten, die den Traum tanzten, den Gesang des Uraltkindes zu ihrem eigenen machten.
    Sie beschwor die Sehnsucht nach ihrer Heimat, nicht der wirklichen, sondern der visionären, die sie und ihre Schwestern sich vorstellten, wenn sie in jeder Hinsicht weit von zu Hause entfernt waren - in Jahren, Kilometern und einer Vielfalt an Sünden und kummervollen Grübeleien. Das Mädchen beobachtete, wie die harten Züge der Männer sanfter wurden, wie die trüben Augen mit der Feuchtigkeit von Tränen glänzten, und sie war nicht überrascht: Die Söldner, die sie damals gekannt hatte, gaben sich bereitwillig sentimentalen

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