Das Erbe der Vryhh
des Mädchens bei ihrer letzten Begegnung auferlegt hatte - zumindest schien er dazu bereit zu sein, Shadith einen gewissen Freiraum zu gewähren, solange sie es nicht übertrieb. Na schön. Sie wußte jetzt, daß sie nicht Linfyar war. Ganz abgesehen von dem Körper: Sie war nicht so jung wie der blinde Knabe, konnte sich auch nicht mit seiner Anpassungsfähigkeit messen. Sie wußte zu genau, was aus ihr werden würde, wenn sie den Respekt vor sich selbst vergaß. Der Assistent ging fort und drückte sich dabei die Sensoren an die Brust, so als handele es sich um einen kostbaren Schatz. Shadith stand auf, legte die Harfe in den Kasten und lehnte ihn an einen der Stühle.
Der Ajin führte sie durch einen der Gänge und dann erneut in den Berg hinein, diesmal nur ein kurzes Stück. Vor einer schweren Stahltür blieb er stehen, preßte die Handfläche auf den Identifikationsscanner, trat beiseite und ließ Shadith ins Zimmer. Er folgte ihr und schloß die Tür. Sie befanden sich jetzt in einem Raum mit hoher und gewölbter Decke, und die nackten Felswände waren nicht verkleidet. Shadith sah die glitzernden Bänder von Metallsträngen im Stein, komplexe Facettenmuster, die aussahen, als seien sie von einem Künstler geschaffen worden, der sich nicht nur als Maler betätigte, sondern auch als Bildhauer. Die Strukturen übten eine starke Faszination auf sie aus, und sie mußte sich schließlich dazu zwingen, den Blick von ihnen abzuwenden. »Was ist das?« Sie wandte dem Ding nun den Rücken zu, doch das Bild hatte sich ihr fest ins Gedächtnis gebrannt, so daß sie selbst im Gesicht des Ajin das Muster aus Licht und Schatten sah.
Der Mann vor ihr blickte sie nicht an, betrachtete das Objekt hinter ihr mit einem Ausdruck zufriedenen Besitzerstolzes, der sie davon überzeugte, daß er nicht die geringste Ahnung davon hatte, um was es sich eigentlich handelte.
Shadith drehte den Kopf, betrachtete die Erscheinung ein zweitesmal, mußte sich erneut zwingen, den Blick davon abzuwenden.
Es wirkte ebenso beschwörend wie das Diadem - dieser Eindruck betraf nicht die äußere Beschaffenheit, sondern die innere Komplexität, auf die Shadith aufmerksam geworden war. Wie dem auch sei: Kein Artefakt der gegenwärtigen Epoche kam der Seelenfalle im Besitz Aleytys’ so nahe. Kell. Mögen seine Gedärme verfaulen: Warum ist er nur so … Himmel, wieso kann er derartige Dinge herstellen? »Nun?« fragte sie laut.
»Hast du schon einmal von den Jägern Wolffs gehört?«
»Wer hat das nicht?«
»Meine Feinde setzten sie auf mich an«, erklärte der Ajin, wobei in seiner Stimme eine Mischung aus Triumph und Vergnügen zu vernehmen war. »Sie wußten nicht, daß ich einen Patron habe, der mächtiger ist als irgendein Jäger, einen Helfer, der ungeachtet aller Kosten unsere Sache unterstützt. Das Objekt dort ist von einem Vryhh geschaffen worden, einem Meisterdesigner, kleine Shadith als eine Falle für meine Feinde. Wenn ich ihn für seine Zeit und Arbeit bezahlen müßte, so wäre dafür der Wert des Bruttosozialprodukts nötig, das diese Welt in einem Jahr erwirtschaftet. Doch er machte uns alles zum Geschenk.«
»Er hatte eine Wahl. Ich nicht. Ich möchte für meine Dienste entlohnt werden.«
Der Ajin überging diese Bemerkung. »Eine Falle für meine Feinde, kleine Shadith. Sieh sie dir an.«
»Nein, lieber nicht. Sie macht mich schwindelig.«
Der Mann an ihrer Seite lachte, empfand Genugtuung angesichts dessen, was er für eine Schwäche Shadiths hielt - nahm das als einen weiteren Beweis (Wenn er den überhaupt brauchte) für die Macht seines Geistes. »Na ja, schon gut. Dann sieh dir statt dessen das hier an.« Er berührte einen bläulichen und ovalen Sensor, und an der rückwärtigen Wand des Zimmers erhellte sich ein Holofeld. »Dort sind sie, die berühmten und angeblich unbesiegbaren Jäger von Wolff.«
Zwei Gestalten schwebten im Grau, drehten sich langsam, zuckten, die Gesichter Fratzen aus Entsetzen und Qual. »Dort treiben sie dahin, kleine Shadith, meine Feinde. Die Jäger. In einem Nichts, in dem sie weder leben noch tot sind - und sich doch vollauf dessen bewußt, was um sie herum geschieht. Sie lauschen dem Flüstern ihrer geheimsten Ängste. Und ihr Leiden hat kein Ende, Mädchen, niemals ein Ende. In jene Welt des Schreckens werde ich alle verbannen, die mich verraten. Verstehst du, was ich meine?«
Shadith nickte und starrte weiterhin auf Grey. Er lebte. Sie schauderte, doch das Gefühl des Grauens war
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