Das Erbe der Vryhh
letzten Respekt vor sich selbst rauben. Die Beziehung zwischen Ianna und ihr war sehr eng und intensiv gewesen; die meisten anderen Vrya und ihre Sprößlinge standen sich nicht so nahe. Ianna hatte sie bis zur Geburt in sich getragen, obgleich die meisten Vryhh-Frauen ihre Föten in den Gebärmüttern von Androiden heranwachsen ließen und die
Kunstwesen auch mit der Erziehung ihrer Kinder beauftragten.
Ianna hingegen hatte sie auf die althergebrachte Art und Weise zur Welt gebracht, sie gestillt und bei sich behalten, bis ihre Tochter alt genug gewesen war, um ein intensives Ausbildungsstudium zu beginnen, in den Laboratorien und automatischen Fabriken, die Raumschiffe und Ausrüstungsgüter herstellten, die die Streuner brauchten, auf die sie ganz versessen waren. Shareem entsann sich daran, wie sie mit ihrer Mutter gestritten, wie sie mit ihr zusammen gelacht hatte. Und auch an den Tag, an dem sie in Begleitung Hyarolls auf den Bereich der Verheerung gestarrt hatte, der einst ihr Heim gewesen war, an die damaligen Empfindungen, die … Nun, zweifellos ein glücklicher Umstand, daß Hyaroll ihr Gesellschaft geleistet hatte.
Die Erinnerungen an die Zeit danach - vage und undeutlich. Sie verbrachte eine Weile im Autoarzt, ließ sich auch von Androiden umsorgen, während ihre Seele in einer Welt der Finsternis weilte, halb getrennt vom Körper. Später dann forderte Hyaroll sie auf, in seiner Werkstatt zu arbeiten. Sie verstand es besser als er, Modelle zu formen, war geschickter mit den Fingern. Die Arbeit half ihr dabei, wieder zuversichtlicher zu werden. Noch später schließlich begleitete sie Hyaroll während seiner Sarnmel-Reisen, fasziniert von den Kulturen, die er untersuchte, von den Speziesexemplaren, die er mit sich nahm. Viele Jahre verstrichen … als sie jetzt darüber nachdachte, erstaunte es sie, wie viele es gewesen waren. Fast zweihundert, bis sich ihr Wesen ausreichend stabilisiert hatte, um ein eigenständiges und unabhängiges Leben zu führen. Nach und nach entfernte sie sich von Hyaroll und begriff endlich, wie erleichtert er darüber war, daß sie sich von ihm zurückzog obgleich er niemals von einer Trennung sprach. Dieser Aspekt bereitete ihr noch immer Schmerzen. Ihr Vater. Er sprach nicht mit ihr. Nie. Selbst jetzt nicht, obwohl er Aleytys als seine Enkelin bezeichnete. Sie fühlte eine gewisse Scham, als sie einige Sekunden lang eifersüchtig auf ihre eigene Tochter war, sie sogar ein wenig haßte. Dann verdrängte sie dieses Empfinden und kratzte sich ärgerlich am Arm. Es nützte alles nichts. Ianna war tot. Und der Gedanke an sie weckte unbehagliche Nervosität in ihr. Ganz plötzlich - so als entfalte Kell das Diagramm des Planes vor ihren Augen - begriff Sha-reem, daß er Ianna eine Falle gestellt hatte, eine Falle im Herzen ihres Heimes, wo sie sich am sichersten wähnte. Damit mußte er in jenen ruhigen Jahren beschäftigt gewesen sein, die vergingen, bevor er schließlich zuschlug. Er versteckte die Bombe - oder um was sonst es sich gehandelt haben mochte
-, und erst Jahre später forderte er sie zum Kampf auf Leben und Tod heraus. Das entsprach eigentlich nicht der Tradition. Todesduelle sollten normalerweise fair ausgetragen werden, aber Kell …Er verachtete alle Regeln, die er nicht selbst bestimmte. Ich hätte es wissen müssen, fuhr es ihr durch den Sinn. Warum ist mir das nicht schon vor Jahrhunderten klargeworden? Warum habe ich nie daran gedacht?
Shareem setzte sich auf, als jähe Furcht in ihr emporquoll. All die Raketen, die er auf den Dom abfeuerte und die niemals die Verteidigungsbarrieren durchdringen konnten, die unterirdischen Drohnen, die der Kephalos regelmäßig zu Schlacke verbrannte, die Giftgaswolken, die überhaupt keine Gefahr darstellten … Ablenkungsmanöver. Nichts weiter als ein Trick, der ihnen ein Gefühl der Sicherheit vermitteln, der sie darüber hinwegtäuschen sollte, daß die eigentliche Gefahr im Innern des Domes lauerte. Eine weitere Falle, die Kell zuschnappen ließ, wenn ihnen seine vergeblichen Angriffe das Gefühl gegeben hatten, er könne nichts gegen sie ausrichten. Vorbereitungen und Manipulationen, vielleicht schon vor dreißig oder mehr Jahren, als er erkannt haben mußte, daß Hyaroll beabsichtigte, seine Enkelin in dem Bemühen zu unterstützen, vollen Vryhh-Status zu erlangen. Shareem wußte, wie Hyaroll zu Werke ging; wer kannte ihn besser als sie? Ein Zauderer und Bummler. Die Interessen wankelmütig, für kurze Zeit stark
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