Das Erbe der Vryhh
reflektierten. Und wenn man die absonderlichen, prächtigen und geschmackvollen Räume satt hatte: ein Lesezimmer, mit Büchern von tausend Welten, mit einem breiten Kamin und einem wuchtigen Schreibtisch, der aus lohfarbenem Holz mit zarter Maserung bestand; ein Musikzimmer; eine Küche aus glänzendem Metall, die Einrichtung eher praktisch und nicht so sehr ästhetisch; der große Prachtsaal mit den zerfurchten Deckenbalken und farbigen Fenstern. Ein Haus, das wie eine gestaltgewordene Metapher wirkte und Tausende von materiellen Andeutungen bereithielt, in dem es sich deshalb recht angenehm leben ließ. Shareem erforschte es, froh darüber, etwas zu tun zu haben. Sie öffnete die versiegelten Zimmer und brachte Aktivität in die stille Leere zurück. Sie weckte die Androiden aus ihrer Wartestarre, stellte die Mahlzeiten zusammen (wenn es ihr gelang, Aleytys lange genug von dem Kephalos fortzulocken, so daß sie etwas anderes zu sich nehmen konnte als nur Brötchen und Cha), fühlte sich immer behaglicher und wohler im Dom. Sie wußte, daß sie sich selbst etwas vormachte, sich ablenkte, doch andererseits war sie seit vielen Jahren nicht mehr so zufrieden gewesen.
An jedem Tag sausten die Flugbomben heran und zerplatzten an den Verteidigungsbarrieren. Andere Zerstörungsdrohnen wühlten sich durch die Erde und griffen von unten an. Aber der Kephalos verwandelte die Raketen in Asche und die automatischen Vernichtungsgeräte im Boden in glühende Schlacke. Er neutralisierte Wolken aus giftigem Gas. Auf die Anweisung Aleytys’ hin warnte der Kephalos darüber hinaus die im Bereich der Domäne wohnenden Vrithli und teilte ihnen mit, angesichts des Kampfes zwischen zwei Unsterblichen seien sie nur dann sicher, wenn sie die Region verließen. Das Fischerdorf war inzwischen verlassen, ebenso wie die Bauernhöfe. Auf den Feldern wucherte Unkraut zwischen den Nutzpflanzen: Das Vieh hatten die Flüchtlinge mitgenommen. Die Vrithli machten sich sofort und ohne Einwände auf und davon. Sie kannten zu viele Schreckensgeschichten über die Artgenossen, die bei einem derartigen Krieg zwischen die Fronten geraten waren.
Am vierten Tag nach ihrer Ankunft lag Shareem ausgestreckt im Gras, hatte die Hände hinterm Kopf zusammengefaltet und blickte zum wolkenlosen Himmel empor. Sie zuckte kurz zusammen, als die tägliche Rakete dem Dom entgegenraste und wie üblich zu Staub zerfiel, bevor sie nahe genug heran war, um irgendeinen Schaden anzurichten. Zur gleichen Zeit wie am Vortag, mit dem gleichen Ergebnis. In der Strategie Kells schien es keinen Platz für Neuerungen zu geben. An jedem Tag rechnete Shareem damit, daß er es mit einer anderen und komplexeren Taktik versuchte, sich als einfallsreicher erwies. Sie befürchtete, er wolle sie nur ablenken, so daß sie nicht mit dem wirklichen Angriff rechneten, den er bald durchzuführen gedachte. Doch an jedem Nachmittag - man konnte die Uhr danach stellen - zielten die Raketen nach der Domkuppel, versuchten die unterirdischen Drohnen, sich an genau der gleichen Stelle in das Heim Aleytys’ zu graben. Und an jedem Nachmittag wehrte der Kephalos, zuverlässig wie immer, die Attacken ab. Shareem runzelte die Stirn. Loguisse hatte sie davor gewarnt, das Offensichtliche zu verspotten, und es war auch gar nicht typisch für Kell, sich so leicht durchschauen zu lassen. Er konnte sehr geduldig sein, ja, das stimmte zweifellos. Er wartete zehn Jahre lang, bevor er die Mutter Shareems umbrachte. Vielleicht hoffte er darauf, daß irgendwann die Vorräte im Dom zur Neige gingen, um ihnen dann mit einem massierten Angriff den Garaus zu machen.
Doch das würde sicher Jahre dauern, und Aleytys war nicht dazu bereit, ihrem Gegner so viel Zeit zu lassen, was Kell auch klar sein mußte. Außerdem fand sich die Tetrade gewiß dazu bereit, ihr mit Versorgungsgütern zu helfen, wenn die junge Frau sie darum ersuchte. Die Schlußfolgerung lag auf der Hand: Kell plante etwas anderes.
Shareem verzog das Gesicht und zwang sich dazu, konzentriert und gründlich über den Tod ihrer Mutter nachzudenken.
Viele Jahre lang hatte sie alle entsprechenden Überlegungen verdrängt, sich hartnäckig geweigert, sich mit jenen Erinnerungen zu befassen. Eine Reaktion auf den damit einhergehenden Kummer, auf das Schuldgefühl, das sie dem Umstand entgegenbrachte, überlebt zu haben. Sie fürchtete, die Reminiszenzen könnten sie dazu veranlassen, Kell zum Kampf herauszufordern oder was noch schlimmer war - ihr den
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