Das Erbe der Vryhh
den Rufcode ein, und Schweiß glänzte auf ihrer Stirn, machte ihr Hände feucht und schlüpfrig. Ganz langsam und vorsichtig gab sie die einzelnen Ziffern ein, wartete atemlos und entspannte sich nicht einmal dann, als das Abbild ihrer Tochter auf dem Schirm aufleuchtete.
»Was ist?« Amaiki wirkte müde und gereizt.
Shareem befeuchtete sich die Lippen. Einige Augenblicke lang konnte sie überhaupt nicht sprechen. Sie bewegte die Zunge, versuchte zu schlucken, gab ein heiseres Keuchen von sich. »Lee.«
Ein gedämpftes Schrillen das in der Mitte abbrach. »Lee, komm hierher. Es ist wichtig.«
Aleytys’ Blick richtete sich auf etwas, das sich außerhalb des Erfassungsbereiches der Übertragungslinse befand. Kurz darauf beugte sie sich vor und schaltete einige Geräte aus. »Bin gleich bei dir, Reem.« Damit unterbrach sie die Verbindung.
Shareem desaktivierte den Kommunikator mit zitternden Händen. Für einige Sekunden blieb sie still stehen und preßte sich die Arme auf die Brüste, die Finger um die Oberarme geschlossen.
Nichts geschah. Sie trat auf die Tür zu, schritt dabei einmal mehr so vorsichtig aus, wie es ihr möglich war, fürchtete sich davor, den Fuß wieder auf den Boden zu setzen, kaum hatte sie ihn gehoben.
Doch wieder blieb ihr keine Wahl. Sie war real, kein Geist, der einem Schatten gleich dahindriften konnte. Und wenn es irgendwo einen versteckten optischen Sensor gab? Ja, selbst ein Schemen mochte genügen, um das Gebäude zerplatzen zu lassen, den ganzen Dom zu verheeren. Myriaden von Möglichkeiten dafür, die Zerstörungssequenz zu initiieren. Trotzdem: Shareem hielt es nicht länger im Lesezimmer aus, und während vor ihrem inneren Auge ein Entsetzensbild dem anderen folgte, kehrte sie in den Prachtsaal zurück und wartete dort, bis sie die Stimme Aleytys’ hörte.
»Ich bin hier«, sagte sie. Es war nur ein Flüstern. Shareem mußte sich räuspern und wiederholte: »Hier, Lee. Im Saal.« Voller Anspannung bückte sie ihrer Tochter entgegen, als sie herankam.
Dann setzte sie sich steifbeinig und zögernd in Bewegung, näherte sich der vorderen Tür, streckte die Hand nach der Klinke aus und mußte sich dazu zwingen, sie auch herunterzudrücken. Vorsichtig ließ sie die Tür aufschwingen. Draußen, außerhalb des Hauses, wischte sich Shareem den Schweiß von der Stirn und atmete erleichtert durch. Sie vermutete, daß die eigentliche Gefahr vom Gebäude ausging.
»Was ist denn los, Reem? Du siehst schrecklich aus.«
Shareem starrte nervös auf die Tür und wich einen weiteren Schritt von ihr zurück. »Lee, ich … ich …« Sie überraschte sowohl Aleytys als auch sich selbst, als sie zu schluchzen begann. Sie umarmte ihre Tochter und drückte sie fest an sich, das Gesicht im dichten Haar Aleytys’, die größer und stärker war als sie, stärker und lebendiger, mit der sie trotz aller Widrigkeiten und Schicksalsschläge wieder vereint war.
Aber es handelte sich nicht um ein Baby, das sie in ihren Armen hielt, sondern eine erwachsene Frau, die sie eigentlich kaum kannte. Als die Flut hilfloser Verzweiflung verebbte, trat sie fort von Aleytys und errötete verlegen. »Ich … ich bin … « Furchtsam blickte sie sich um und sah die Stelle, wo sie zuvor im Gras gelegen hatte. Entschuldige, Lee. Es war nur …« Sie näherte sich dem Bereich des immer noch niedergedrückten Grases, und Aleytys folgte ihr wortlos.
Shareem ließ sich nieder und nahm mit überkreuzten Beinen Platz, dicht neben ihrer Tochter. »Ich hatte Angst …«
»Das konnte ich deutlich sehen. Aber wieso?« Aleytys beugte sich vor, griff nach der Hand ihrer Mutter und hielt sie fest. »Du zitterst noch immer. Und schwitzt.«
»Ich bin eine Närrin.«
»Nein.«
Shareem zog die Hand von der ihrer Tochter fort und faltete sie mit der anderen zusammen. »Sprich nicht über Dinge, von denen du keine Ahnung hast.« Sie starrte auf ihre Hände, dann an Aleytys vorbei in Richtung Haus. »Ich habe dir doch erzählt, daß Kell meine Mutter zu einem Kampf auf Leben und Tod herausforderte und sie umbrachte.«
»Ja. Und?«
»Ich bin immer fortgelaufen und habe mich Einsichten gegen
über verschlossen. Ja, ich ergriff die Flucht und dachte nie darüber nach, wie meine Mutter starb. Bis gerade eben. Ich lag hier im Gras und beobachtete eine heranfliegende Rakete. In der dritten Stunde nach Mittag. Wie gestern. Wie vorgestern. Vier Tage sind wir jetzt hier, Lee. Wie lange brauche ich eigentlich, um etwas zu begreifen?
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