Das Erbe des Blutes - Roman
hatte. »Ja?«
»Haben Sie schon mal was von Ahnenforschung gehört?«
Er dachte kurz nach. Ja, das hatte er. Alte Leute, die ihre letzten Tage damit verbrachten, tote Verwandte ausfindig zu machen.
»Ja«, sagte Foster. »Ziemlich dämliches Hobby.«
Einige lachten.
»Wie auch immer«, meinte Heather und ignorierte die Lacher. »Vor ein paar Jahren hat meine Mum unseren Stammbaum erforscht. Aber das kann man nicht von zu Hause aus tun. Am besten geht das in London, nicht in Rawtenstall. Sie kam mich besuchen, und wir fuhren an einen Ort in Islington, wo es jede Menge Register über Geburts-, Heirats- und Sterbeurkunden gibt. Total überlaufen und absolut winzig.«
Komm zur Sache, dachte Foster. »Was hat das mit dem Mord an Darbyshire zu tun?«
»Wenn man Einsicht in eine Urkunde nehmen will, muss man ein Formular ausfüllen. Darauf ist dann die Indexnummer der gewünschten Urkunde anzugeben. Können Sie mir folgen?«
»Reden Sie nur weiter.«
»Die Indexnummern sehen aus wie die Referenz, die wir gefunden haben; eine Mischung aus Buchstaben und Zahlen.«
Foster sah einige zustimmend nicken. Das hörte sich nach einer besseren Idee an als die Vorschläge während des Meetings.
»Wie werden Sie das überprüfen?«, wollte er wissen.
»Meine Mum hat aufgegeben. Sie denkt, London ist eine
Lasterhöhle, und will nicht mehr herkommen. Sie engagierte einen Kerl, der damit seinen Lebensunterhalt verdient, um die Sache für sie in die Hand zu nehmen. Es hat sich rausgestellt, dass wir von einer Horde Bauern abstammen. Nichts Interessantes. Auf dem Weg hierher hab ich sie angerufen. Sie hat seine Nummer noch.«
»Rufen Sie ihn an, aber quatschen Sie am Telefon nicht zu viele Details aus. Vereinbaren Sie ein Treffen.«
Sie hatten nichts in der Hand, dachte Foster. Das hier konnte der Durchbruch sein, den sie dringend benötigten.
5
Im Family Records Centre im Londoner Stadtteil Clerkenwell saß Nigel an einem Zweiertisch in der Kantine - niemand kam auf die Idee, hier von einem Café zu sprechen. Er hatte den kleineren viereckigen Tisch an der Wand einem großen runden für vier Personen vorgezogen, weil er möglichst verhindern wollte, direkt neben einem Amateur zu landen, der danach lechzte, Geschichten über einen ominösen Vorfahren loszuwerden, der ein Bein an der Somme gelassen hatte.
Die Kantine lag ziemlich versteckt am einen Ende von Exmouth Market im Keller eines modernen, funktionalen Gebäudes aus sandfarbenem Ziegelstein. Auf der einen Seite standen Tischreihen, auf der anderen gläserne Schließfächer und Garderobenständer. Schwarz gekleidete Baristas, die sieben verschiedene Kaffeevariationen servieren, suchte man hier vergeblich. Es gab lediglich ein paar Automaten, die mit viel Getöse schlammfarbenes Wasser ausspuckten, an dem man sich dann die Zunge verbrühte. Eine andere
Maschine hatte gummiartige Sandwiches im Angebot, die sich bereits in der Plastikfolie aufrollten. Das Durchschnittsalter der Leute, die hierherkamen, war wahrscheinlich doppelt so hoch wie andernorts, denn Ahnenforschung blieb - von wenigen Ausnahmen abgesehen - die Domäne derer, für die der Tod nicht mehr eine in ferner Zukunft liegende Möglichkeit, sondern eine bald bevorstehende unausweichliche Tatsache war.
Das Family Records Centre ist ein Mekka für Ahnenforscher und Familienhistoriker. Dort befinden sich die Register mit so gut wie allen in England und Wales seit 1837 erfassten Geburten, Todestagen und Hochzeiten sowie die Aufzeichnungen aller Volkszählungen zwischen 1841 und 1901. Nigel vertiefte sich gern in die Register und freute sich eigentlich immer, wenn er einen Tag lang ganz in der Beschäftigung mit den administrativen Spuren längst Verstorbener aufgehen konnte. Doch mittlerweile empfand er seine Anwesenheit dort als einen nicht versiegen wollenden Quell von Enttäuschungen. Achtzehn Monate zuvor hatte er dem Centre den Rücken gekehrt und geschworen, nie mehr einen Fuß hineinzusetzen. Er war fest entschlossen, keinen einzigen Tag mehr damit zu verschwenden, den Stammbaum einer Dilettantin aus den besseren Kreisen zu erforschen, die im Gegensatz zu Nigel keinerlei Interesse an der Vergangenheit oder den Lebensumständen ihrer Vorfahren hatte, sondern die Informationen lediglich brauchte, um einen spießigen, hübsch gezeichneten Familienstammbaum anfertigen zu lassen und bei sich aufzuhängen.Vor achtzehn Monaten hatte er sich ins sonnige Hochland der akademischen Welt aufgemacht - dorthin, wo
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