Das Erbe des Blutes - Roman
sie vor der Tür stehen.«
Nigel verspürte Aufregung, ein Gefühl, das ihm schon eine Weile versagt geblieben war. Zum ersten Mal seit Monaten konnte er es nicht abwarten, sich am nächsten Tag an die Arbeit zu machen.
6
Erst nach zweiundzwanzig Uhr kehrte Foster zu seinem Reihenhaus in Acton zurück, das in einer ruhigen unauffälligen Straße lag. Definitiv zu spät, um noch ins Pub zu gehen. Er parkte und schaltete den Motor aus, ließ den Schlüssel jedoch stecken, damit er noch weiter Musik hören konnte. Den Song kannte er nicht. Er wurde von seinem MP3-Player abgespielt, einem streichholzschachtelgroßen Metallgerät, das er ans Autoradio angeschlossen hatte. Auf dem Player befanden sich mehr als tausend Songs. Nur einige wenige davon waren ihm bekannt. Jemand auf der Polizeistation hatte sie ihm vor ein paar Monaten heruntergeladen. Heutzutage brauchte man sich keine eigene Plattensammlung mehr zuzulegen, denn man konnte sich einfach der eines Freundes oder völlig Fremder aus dem Internet bedienen. Er wusste überhaupt nicht mehr, was aus all den Schallplattenkisten geworden war, die er als Teenager zusammengetragen hatte. Seine erste Single? »Indiana Wants Me« von R. Dean Taylor. Allein die Tatsache, dass der Protagonist im Song auf der Flucht vor der Polizei war, hatte seinen Vater wütend gemacht. Deshalb liebte er ihn wohl so. Weiß der Himmel, wo die Single jetzt war. Er nahm sich vor, den Song runterzuladen.
Im Wagen war es warm, die Armaturenbeleuchtung erhellte die Dunkelheit. Er kam sich wie in einem Kokon
vor. Nach Ende des Songs drehte er die Lautstärke jedoch so weit herunter, dass nur noch ein Murmeln zu hören war, und rief mit dem Handy Khan an, um ihm zu sagen, er solle Heather am nächsten Morgen im FRC treffen. Khan nahm diese Mitteilung nicht besonders begeistert auf, aber das scherte Foster wenig.
Er stieg aus, lief den schmalen gepflasterten Pfad zur Haustür, schloss auf und knipste in der Diele das Licht an. Erleichtert sah und roch er, dass Aga, seine polnische Putzfrau, am Morgen da gewesen war. Er sah kurz die Post durch, da er aber nichts Interessantes fand, legte er sie auf den wachsenden Stapel ähnlicher Sendungen. Dann hängte er den Mantel auf, entledigte sich seiner Krawatte sowie des Jacketts und ging auf direktem Weg in die Küche. Dort nahm er die noch halb volle Weinflasche vom Pinientisch und schüttete sich das Glas randvoll. Es war ein 1962er Cheval Blanc. Am Vorabend hatte er wesentlich besser geschmeckt, war aber noch trinkbar. Auf den Geschmack kam es ihm nicht so an, inzwischen brauchte er mindestens ein paar Gläser, um den Kopf frei zu bekommen und nachts einschlafen zu können.
Den Wein hatte er nicht ausgewählt. Keine einzige Flasche davon. Als er bei der Polizei aufhörte und in Pension ging, hatte sein Vater nach einer neuen Beschäftigung gesucht und war zum Weinliebhaber geworden. Ganz besonders mochte er Bordeaux-Weine. Er sammelte Flaschen der besten Jahrgänge, bewahrte sie auf und katalogisierte sie in einem Buch. Manchmal, zu besonderen Gelegenheiten, verschwand er kurz im Keller, pustete den Staub von einer Flasche, die seiner Ansicht nach gut schmecken würde, und kredenzte sie stolz den Gästen. Dazu beschrieb er ihnen den Jahrgang und den Winzer, erklärte, ob und warum es
ein guter Jahrgang war, und nannte einige Charakteristika. Während des Essens nippte er genussvoll an einem einzigen Glas. Manchmal begnügte er sich den ganzen Abend damit. Einer der letzten Sätze seines Vaters, an den er sich erinnern konnte, bevor dieser den Cocktail trank, der seinen Schmerzen ein Ende bereitete, lautete: »Kümmer dich um den Keller, mein Sohn.«
»Sorry, Dad«, murmelte er und nahm abermals einen großen Schluck. Angesichts des sauren Geschmacks, den der Wein angenommen hatte, weil er den ganzen Tag offen herumstand, verzog er das Gesicht.
Er verließ die Küche und schlenderte durch die Diele ins Wohnzimmer. Wenn er den Raum betrat, nahm er manchmal einen schwachen Lavendelgeruch wahr, den die kleinen Duftschalen verströmten, die seine Mutter hier und da aufgestellt hatte. Als er einige Wochen nach dem Tod seines Vaters an einem trüben Novembertag hierher zurückgezogen war, hatte er sie gleich entsorgt. Doch der Geruch blieb. An den Wänden sah man noch die Umrisse abgehängter Fotos und Bilder. Die Sideboards waren bis auf einige zerlesene Zeitschriften, ein paar Bücher und verwaiste Kerzenständer leer. Das einzige Foto im Zimmer,
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