Das Erbe des Blutes - Roman
Vorübergehen.
»Die haben gestern’nen ganz schönen Trubel veranstaltet«, sagte Phil, ohne aufzusehen.
»Wer?«, fragte Nigel mit Unschuldsmiene, obgleich er genau wusste, worauf Phil anspielte.
»Ihre Freunde von der Met. Um was für ein Verbrechen geht’s denn?«
»Nichts Wildes«, log Nigel. »Ich gehe ihnen nur mit ein bisschen Recherche zur Hand.«
Phil nickte, während er einen Dokumentenstapel durchblätterte. Er hatte immer noch nicht den Kopf gehoben.
»Gute Arbeit, wenn man so was an die Angel kriegt, oder?« Schließlich nahm er doch noch Blickkontakt auf. Sein rundes Gesicht sah freundlich aus.
»Glaub schon«, sagte Nigel und fragte sich, ob sich Duckworth, wie es seinem Naturell entsprach, gesprächiger gezeigt hatte.
Phil sortierte seinen Dokumentenstapel weiter. Als er zu den Geburtsregistern hinüberging, hörte Nigel, wie Phil die ersten Takte von »Coward of the County« von Kenny Rogers pfiff.
Er freute sich auf die Suche und war neugierig auf das, was er vielleicht entdecken würde. Diese Erwartungshaltung war es, die ihm den meisten Spaß an seinem Job bereitete. Wie bei einer Kartoffelpflanze liegt der interessanteste Teil der Ahnenforschung unter der Oberfläche. Erst wenn man tief genug grub, konnte man die Geschichten der Toten, die all die Jahre im Verborgenen lagen, ans Tageslicht befördern.
Doch augenblicklich sah er sich mit einem Problem konfrontiert. Angesichts des auf der Sterbeurkunde vermerkten Alters am Todestag - nämlich zweiunddreißig - dachte Nigel, Beck könne 1846 oder 1847 geboren worden sein. Nichtsdestotrotz fand er in beiden Jahren keinen Eintrag für einen Albert Beck. Dies war insofern nicht verwunderlich, als vor 1865 keine Verpflichtung bestand, eine Geburt, Heirat oder einen Sterbefall registrieren zu lassen. Deshalb taten das auch nicht alle. Beim Durchsehen der Heiratsbücher ab 1865 hatte Nigel mehr Glück. Im September 1873 hatte ein Albert Beck geheiratet. Ein Anruf bei der Polizeihotline des GRO ergab, dass seine Frau Mary Yarrow hieß.
Nigel benutzte diese Information oben im FRC. Die Ergebnisse der Volkszählung aus dem Jahr 1881 sind an einem der Terminals in dem Raum, wo die Ergebnisse aller Zählungen von 1841 bis 1901 archiviert sind, elektronisch in einer Datenbank zugänglich. Er wusste zwar, dass der tote Beck nicht aufgelistet war, aber er hoffte, seine Witwe und mögliche Kinder des Paars noch unter der Adresse in der Clarendon Road zu finden. Im nächsten Schritt konnte er
das Alter der gemeinsamen Kinder eruieren und sie in den darauffolgenden Volkszählungen ausfindig machen, herausfinden, wen sie geheiratet und ob sie Kinder hatten.
»Wo bist du, wo bist du?«, murmelte er vor sich hin, während er die Suchbegriffe eintippte. Das war ein vertrauter Spruch zu Beginn jeder Suche. Er wartete auf die Entdeckung - ein Detail, ein Name oder Eintrag -, die ihm helfen würde, Licht in die Vergangenheit zu bringen.
Da war es: in der Clarendon Road. Mary war als Haushaltsvorstand angegeben. Zwei Kinder: eine Tochter, Edith, die 1881 bei der Volkszählung fünf war, und ein dreijähriger Sohn namens Albert (wenigstens der Name lebte weiter). Interessanterweise war ein John Arnold Smith, vierunddreißig, als Untermieter aufgeführt. Nigel vermutete, er könne der neue Mann in Marys Leben gewesen sein. Als Witwe mit zwei Kindern in der viktorianischen Zeit in England zu leben, war sicher hart, und es durfte fast unmöglich gewesen sein, ohne die Barmherzigkeit der Gemeinde zu überleben. Die drohend aufragenden gotischen Türmchen des Arbeitshauses warfen einen Schatten auf jeden ihrer Schritte. Einen Mann im Haus zu haben, war da unabdingbar. Wer in Sünde lebte, wollte dies jedoch nicht an die große Glocke hängen, deshalb hatten sie es wohl unterlassen, die Volkszähler davon zu unterrichten.
Nigel hoffte, dass seine Vermutung sich als falsch erweisen würde. Wenn Mary mit ihrem »Untermieter« zusammenlebte und sich dann entschloss, ihn zu heiraten, hätte sich ihr Nachname ebenso wie der ihrer Kinder in Smith geändert. Dies machte das Aufspüren ihrer Nachkommen fast unmöglich, weil es Millionen von Smiths gab, die in den darauffolgenden hundertfünfundzwanzig Jahren geboren wurden, heirateten oder starben.
Wieder unten, suchte er in den Registern ab 1881 nach dem Heiratseintrag von Mary Beck und John Smith. Im Sommer 1882 fand er ihn - leider. Für das Ehepaar wurde eine neue Adresse in Kensington angegeben. Nigel ging wieder
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