Das Erbe des Blutes - Roman
nach oben zur Volkszählung von 1891, und es gelang ihm, die Smiths ausfindig zu machen. Das Paar schien zwei eigene Kinder gehabt zu haben, doch eins der Kinder aus erster Ehe war offenbar verschwunden. Die fünfzehnjährige Edith war verzeichnet, nicht aber Albert junior. Nigel gelang es, dieses Rätsel durch eine kurze Prüfung der Sterberegister zu lösen: Der junge Albert war 1885 im Alter von sechs Jahren an Tuberkulose gestorben. Aus erster Ehe lebte nur noch Edith.
Das Leben meinte es nicht gut mit Mary. Nigel konnte sie sich vorstellen; wettergegerbtes abgehärmtes Gesicht, herabhängende Mundwinkel, leerer Blick. Das Unglück der Verluste, zunächst des ersten Mannes und dann des einzigen Sohnes, hatten sie vor der Zeit altern lassen. Aber sie wird die Tragödien und ihr Leben mit Würde und ohne Selbstmitleid ertragen haben, wie so viele damals. Die Menschen stellten ihre Gefühle nicht zur Schau oder suchten einen Schuldigen für ihr Schicksal. Gleichmut, Ausdauer und Bescheidenheit, das waren die Worte, die ihm in den Sinn kamen, wenn er den Staub von einem lange in Vergessenheit geratenen Leben wegblies. Ein krasser Gegensatz zu heute, wo jeder in aller Öffentlichkeit litt.
Edith war die einzige Überlebende von Alberts Nachkommen. Wenigstens schränkte das seine Möglichkeiten ein. Da sie 1891 fünfzehn war, musste sie 1901 fünfundzwanzig gewesen sein. Mit ziemlicher Sicherheit hatte sie da schon geheiratet. Bevor er die Heiratsbücher konsultierte - der Gedanke, aus Hunderttausenden von Edith Smiths die richtige herauszufischen, drohte ihn zu entmutigen -, hoffte er,
dass sie 1901 noch ledig war. Er tippte die Adresse in Kensington ein - und da waren sie: Mary Smith, John Arnold Smith und Edith Smith. Vielleicht hatte man Edith nicht unter die Haube gekriegt, dachte Nigel. Er stellte sie sich als wenig attraktive, nachlässig gekleidete junge Frau vor, einsam und ungeliebt. Hoffentlich irrte er sich, und sie hatte irgendwann doch noch geheiratet.
Ihm blieb nichts anderes übrig, als die Heiratsregister der folgenden zwanzig Jahre bis 1921 durchzugehen. Da war Edith fünfundvierzig und somit zu alt für ein Kind. Er brauchte zwei Stunden, um die Angaben der neunzehn Frauen, die Edith Smith hießen und zwischen April 1901 und 1921 in Marylebone geheiratet hatten, aufzulisten. Er ging nach draußen und gab sie dem GRO telefonisch durch. Dabei erwähnte er, dass er nur nach einer Edith Smith suchte, deren Vater auf der Heiratsurkunde entweder als Albert Beck oder John Smith, Stellwärter bei der Eisenbahn, vermerkt war. Man sagte ihm, es würde eine Weile dauern, um neunzehn Heiratsurkunden rauszusuchen. Eine Dreiviertelstunde später bekam er einen Anruf, dass keiner der beiden möglichen Namen auf einer der Urkunden stand. Demnach endete Edith Smith mit großer Wahrscheinlichkeit als alte Jungfer. Das bemitleidenswerte Bild, das er sich ausgemalt hatte, war kein Hirngespinst gewesen.
Er ging runter in die Kantine, um vor seinem Anruf bei Foster einen klaren Kopf zu bekommen, holte sich einen Plastikbecher mit kochend heißer brauner Brühe und setzte sich.
»Hallo, Nigel«, sagte jemand fröhlich.
Nigel drehte sich um und wurde von einem Mann in braunem Anzug mit angeklatschten Haaren begrüßt. Er kannte ihn: Gary Kent, ein Reporter der London Evening
News . Der hatte Nigel ein paarmal angeheuert, um in der Vergangenheit anderer Leute rumzuschnüffeln. Er hatte damit gerechnet, Duckworth über den Weg zu laufen, so unangenehm diese Aussicht auch sein mochte, aber er hatte gehofft, Kent nie mehr begegnen zu müssen.
»Hallo, Gary«, sagte er misstrauisch.
»Schon’ne Weile her, was?«
»Stimmt.«
»Hab gehört, aus dem Job an der Uni ist nichts geworden.«
»Dann haben Sie wohl mit Dave gesprochen, oder?«
Kent tippte sich theatralisch an die Nase. »Heißt das also, dass Sie wieder im Geschäft sind?«
Nigel schüttelte den Kopf. »Nein, für mich gibt’s nur geradlinige Ahnenforschung.«
»Na, das stimmt nicht so ganz, oder? Sie arbeiten doch für die Bullen.«
Duckworth, dachte Nigel. Er gab keine Antwort.
»Schauen Sie, ich bin an der Geschichte interessiert«, fuhr Kent fort. »Warum hat die Met Sie angeheuert, um am Notting-Hill-Mord zu arbeiten?«
»Die Zeiten, als ich noch indiskret war, sind vorbei, Gary. Kein Kommentar.«
Er wusste, dass Kent es nicht dabei belassen würde.
»Es muss da einen Anhaltspunkt in der Familiengeschichte geben. Sie wissen, dass ich das
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