Das Erbe des Blutes - Roman
Straßenseite. Von Zeit zu Zeit stieß jemand die Tür auf, dann wehte das angeheiterte Geschwätz und Gelächter zu ihm herüber. Mit einem Ruck riss er den Kopf nach rechts und spürte, wie sein Nacken knackte. Er hatte das Kommen und Gehen beobachtet, aber der Richtige war noch nicht darunter gewesen.
Das verirrte Schaf.
Beim Einatmen des bestialischen Gestanks der U-Bahn schauderte ihn. Aus Neugierde hatte er einmal einen Wagen bestiegen. Es war noch schlimmer, als er es sich ausgemalt hatte: die Hölle auf Rädern. Im vergangenen Sommer waren die Temperaturen unerträglich gewesen, kaum ein Windhauch, der die Hitze und den Rauch forttrieb. Ängstlich war er in der Baker Street die Treppe hinabgestiegen. Das Brausen und Getöse des einfahrenden Zugs, der heiße Windstoß, den er dabei verursachte. Das alles ließ ihn beinahe kehrtmachen und die Holztreppe zurück nach oben steigen. Doch er hatte sich trotzdem hineingewagt.
Unter der Erde, in diesem Sarg auf Schienen, wusste er, dass der Teufel ihm im Genick saß. Es war das auserkorene Gefährt dekadenter und gottloser Menschen, Betrunkener und Huren. Um ihn herum sogen Männer an ihrer Pfeife, deren Rauch im stickigen
Wagen in Schwaden aufstieg und sich mit dem üblen Geruch der Gaslampen vermischte. Auf ihrem Weg in Richtung Westen tauchten sie abwechselnd in grelles Licht und pechschwarze Dunkelheit ein. Zwei Stationen hielt er es in dieser stinkenden Luft aus, dann glaubte er, ersticken zu müssen. In Paddington kam er wieder nach oben und rang nach frischer Luft. Ich fahr zur Hölle, wenn der Herr es mir sagt - vorher nicht, schwor er sich. Seitdem hatte er sich keiner U-Bahn mehr genähert.
Dann sah er ihn herauskommen. Den Richtigen. Er verließ das Pub torkelnd, richtete sich wieder auf und taumelte dann seitwärts. Er blieb außer Sicht, während der Mann über den Grove wankte. Der besoffene Trottel konnte kaum den Kopf heben und schwankte in Richtung U-Bahn-Station. Er trat aus dem Schatten und folgte ihm. Er fragte sich, wohin die Jagd ihn wohl führen würde: nördlich von der Station aufs Ackerland und die Felder von Notting Barn? Das wäre genau perfekt: Dort baute man gerade Straßen und Reihe um Reihe Stadthäuser für die Reichen, die in Zubringerzügen und der U-Bahn herkamen.
Aber nein, kurz vor der U-Bahn bog der Betrunkene links ab. Dank einer weiteren nebellosen Nacht konnte er angemessenen Abstand halten, doch er beschleunigte seine Schritte, als er bemerkte, dass sie die Gegend erreichten, in der es nur noch hier und da eine Laterne gab. Der Mann torkelte. Er musste lächeln, weil es so einfach zu sein schien.
Sein Opfer überquerte die Straße und verließ den Weg in Richtung der Bankette neben der U-Bahn-Linie. Dort war der Boden schwarz und nass. Ohne Licht hatte er Schwierigkeiten, die Gestalt auszumachen, aber seine Augen gewöhnten sich bald an die Dunkelheit, und er erkannte, was der Trunkenbold vorhatte: Er musste austreten. Er blieb stehen und blickte sich um: niemand zu sehen, nichts zu hören. Der Betrunkene torkelte über die Bankette einen Schlammweg entlang, der schon bald zu einer Straße würde.
Ringsherum standen einige noch unfertige Häuser - Silhouetten in der pechschwarzen Nacht. Er gewahrte, wie der Mann in der Nähe einer Wand stehen blieb und sein Urinstrahl auf den durchnässten Boden prasselte.
Er zog ein Messer aus der Tasche und hielt es fest umklammert. Die letzten Meter rannte er fast. Seine Bewegungen glichen denen einer Katze und verringerten die zwischen ihnen liegende Distanz. Der Trunkenbold schüttelte die letzten Tropfen ab. Ohne sich einer Gefahr bewusst zu sein, hob er den Kopf, um die Nachtluft einzusaugen. Da schlang sein Verfolger ihm den linken Arm um den Hals, zog ihn nach hinten und stieß ihm das Messer tief in die Brust. Außer einem Grunzen gab der Mann so gut wie keinen Laut von sich und sackte zu Boden.
Nach getaner Arbeit glitt er wieder zurück in die pechschwarze Nacht …
9
Als Nigel am Freitag aus der U-Bahn-Station trat, war das Family Records Centre bereits geschlossen. Noch bevor die Tore sich am Samstagmorgen öffneten, wartete er schon ungeduldig vor dem Eingang. Er freute sich auf den vor ihm liegenden Tag und fragte sich, was für Geheimnisse und Lügen er wohl ans Licht bringen würde. Der neue Typ - Phil hieß er, dachte Nigel zumindest - stand an der Information und pfiff einen Lena-Martell-Song, die Melodie von »One Day at a Time«. Nigel begrüßte ihn im
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