Das Erbe des Blutes - Roman
verbreitete Knochenkrankheit wie Rachitis.
Nigel sah auf die Uhr und fluchte leise. Es war schon halb elf, und er hatte Foster noch nicht angerufen.
Um halb elf hatten Foster und Heather zwei weitere Stockwerke hinter sich gebracht, noch mehr Wohnungen mit mürrischen und verstockten Zeitgenossen. Eine Frau hatte sich darüber beklagt, dass ihr Nachbar morgens um vier Musik gespielt und damit ihr Kind aufgeweckt hätte. Der Nachbar erklärte, er arbeite nachts und müsse sich entspannen, wenn er nach Hause komme; die besagte Nachbarin sei zickig und neurotisch. Sie nickten und lächelten, weil sie keine Lust hatten, in irgendwelche Querelen verwickelt zu werden. Jede Wohnung wurde sorgfältig mit dem Wahlregister abgeglichen; dort, wo sie niemanden antrafen, würden sie später nochmals hingehen, für den Fall, dass die Bewohner in der Arbeit waren. Bei jedem neuen Mieter wurde der Hintergrund überprüft. Foster hoffte, ihr Vorgehen würde den Killer zwingen, etwas Auffälliges zu tun.
Als er sich gerade fragte, ob er den Uringestank aus diesen Hausfluren jemals wieder aus der Nase bekäme, klingelte sein Handy. Nigel war dran.
»Wo haben Sie gesteckt?«, fragte er ohne Begrüßung.
Er hörte, dass er Nigel aus der Fassung gebracht hatte, als der stotternd antwortete.
»Ich hab Ihnen doch gesagt, dass Sie sich heute gleich bei mir melden sollen«, tadelte Foster ihn. »Jetzt ist es schon halb elf.«
»Tut mir leid«, stieß Nigel hervor. »Ich war in einem Museum.«
»Weshalb?«
»Ich hab den Mörder gefunden, den von 1879.«
»Sind Sie betrunken?«
»Ich wollte sagen, das Museum, in dem ich heute früh war, stellt Fairbairns Skelett in einem Schaukasten aus.«
»Wieso denn das?«
»Nach der Hinrichtung haben sie seinen Körper für die medizinische Forschung gespendet. Auf der Plakette am Schaukasten, in dem sie ihn ausstellen, steht aber nur, dass er ein Mörder war. Also nichts, was wir nicht schon wussten.«
»Kann da jeder hin?«
Foster kam der Gedanke, dass der Killer, wenn er Fairbairns Taten kopierte, sehr gut auch seinen Vorgänger besucht haben konnte. Und das vielleicht sogar mehrmals. Er konnte bei diesem Museum anrufen und nachfragen, ob ihnen da jemand aufgefallen war. Oder noch besser, ob sie da womöglich eine Überwachungskamera hatten.
»Hören Sie zu, Nigel, ich hab die uns zugefaxten Zeitungsberichte gelesen. Sehr interessant. Was ich aber eigentlich sehen will, sind die Originalaufzeichnungen aus dem Prozess: Mitschriften, Beschreibungen der Beweisstücke, die richterliche Zusammenfassung. Gibt’s diese Art von Infos irgendwo?«
»In den National Archives. Wir wissen, dass der Prozess im Old Bailey stattfand. Und in den Prozessberichten steht wortgetreu alles, was sich im Gerichtssaal zugetragen hat. Aber die Zeitungsberichte waren ziemlich umfassend …«
»Ich will mir das nur selbst anschauen: Was passiert ist, wie sich alles entwickelt hat. Ohne irgendwelche Interpretationen.«
Sie verabredeten, dass sie sich in ein paar Stunden in den National Archives treffen würden. Und in der Zwischenzeit, meinte Barnes, gab es da noch etwas, das er in der British Library überprüfen wollte.
»Machen Sie, was Sie wollen«, sagte Foster resigniert, »kommen Sie nur nicht zu spät.«
Drei Stunden später kam Foster bei den National Archives in Kew an, dieser Mischung aus luftigem, modernem Glashaus und monströser verkrusteter Eiterbeule. Das Gebäude erinnerte Foster an den Campus einer modernen Uni. Doch drinnen war die Studentenschaft etwas reifer. Es herrschte eine energiegeladene Atmosphäre, alle gingen zielstrebig ihren Forschungen nach, fanden sich zu kleinen Grüppchen zusammen, um sich flüsternd auszutauschen.
Er traf Nigel am Empfang. Gemeinsam gingen sie ins Café, wo die Tische vollbesetzt waren. Barnes teilte ihm mit, dass er die Prozessberichte, die den Zeitraum von Fairbairns Verfahren abdeckten, aus dem Old Bailey angefordert habe und dass es bis zu einer Stunde dauern könne, bis sie bereitlägen. In der Zwischenzeit solle Foster sich etwas durchlesen.
Er zog drei Kopien aus seiner Aktentasche. Nicht noch mehr Zeitungsberichte, dachte Foster. Als Nigel sie ihm gab, sah er, dass es sich um kopierte Buchseiten handelte.
»Was ist das?«
»Das sind die Erinnerungen von Norwood, Fairbairns Henker. Die machten das damals alle; die Leute haben solche Erfahrungen aufgesogen. Wie auch immer, jedenfalls war Fairbairn seine erste Hinrichtung. Im Buch gibt’s
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