Das Erbe des Blutes - Roman
lange kein Zuhause mehr für ihn, sondern mehr ein Ort, an dem er sich ausruhte und wieder Kraft schöpfte. So war es seit dem Tod seines Vaters immer gewesen. Acht Jahre, in denen er sein Leben, abgesehen von der Arbeit, auf Eis gelegt hatte.
Er fragte sich, was sein Vater wohl von diesem Fall gehalten hätte. Als er gerade Detective geworden und sein Vater kurz vorher in Pension gegangen war, sprach Foster mit ihm alle laufenden Fälle durch, fragte ihn nach seiner Meinung und nach Ideen, worauf man als Nächstes achten solle. Sein Vater nannte ihm dann Beispiele von schwierigen Fällen, die er gelöst hatte, aber er warnte immer davor,Vermutungen anzustellen: »Fast alle Fehler, von denen ich weiß, entstehen, wenn die Leute anfangen, das zu sehen, was sie sehen wollen, und nicht das, was tatsächlich zu sehen ist.« Foster hatte nach diesen Unterhaltungen immer ein Ziel vor Augen und einen Plan, wie er vorgehen sollte.
Während des ersten Jahrs nach dem Tod des Vaters hatte er immer noch seine Stimme im Ohr. In Gedanken führte er Gespräche mit ihm, umriss das Problem oder den Drehund Angelpunkt, und sein Vater antwortete ihm in gewohnt knapper Manier. Doch das ließ immer mehr nach. Er konnte sich das Bild seines Vaters zwar noch vor Augen führen, und manchmal hörte er ihn auch sprechen. Doch wenn er sein Bild bewusst heraufbeschwören wollte, gelang ihm dies nicht. Seine Stimme vermischte sich mit der von Kollegen und Freunden. Die Vergangenheit war ihm entglitten.
Aber noch nie hatte er den weisen Rat seines Vaters mehr benötigt als jetzt. Konnte er das Gedächtnis seines Vaters wiederauferstehen lassen? War es möglich, eine Stimme aus dem Jenseits zurückzurufen?
Er ging zum Sekretär, schloss ihn auf und hob die Klappe.
Alles stand noch am gewohnten Platz. Das hatte er schon unzählige Male getan: den Briefbeschwerer hochgehoben, die Fotos betrachtet und den Sekretär dann wieder zugemacht. Aber dieses Mal wollte er einen Schritt weitergehen. Er betrachtete das Foto, das ihn als kleinen Jungen mit seiner Mutter in Camber Sands zeigte. Erinnern konnte er sich daran nicht mehr. Damals war er erst zwei gewesen. Diese Menschen waren Fremde für ihn. Seine Eltern hatten nicht viel für Fotografie übrig gehabt, deshalb gab es nur wenige Bilder von ihm und seiner Schwester. Yvonne, dachte er, und die Erinnerung stieg wieder in ihm hoch. Keine gute Erinnerung. Sie lebte mit ihrer Familie am anderen Ende der Welt. Seit der Beerdigung hatte er sie weder gesehen noch gesprochen. Sie gab ihm die Schuld, nicht nur wegen dem, was er getan, sondern auch, weil er sie nicht miteinbezogen, sie nicht um Rat gefragt hatte. Er erinnerte sich noch genau an die letzten Worte, die sie ihm entgegenschleuderte, bevor sie im strömenden Regen die Kirche verließ.
»Eines Tages werde ich dir vergeben. Aber im Augenblick habe ich das Gefühl, dass dieser Tag noch in sehr weiter Ferne liegt.«
Er wusste, dass es an ihm war, den ersten Schritt zu tun, diesen Tag vorzuverlegen, aber je länger er damit wartete, desto schwieriger wurde es. Er zuckte zusammen und schob das Bild beiseite, um sich wieder dem Foto, das ihn als Jungen am Meer zeigte, zuzuwenden. Aber er konnte sich einfach nicht an diese Zeit erinnern.
Eine Sache ging ihm jedoch ständig durch den Kopf, und es gelang ihm nicht, sie aus seinen Gedanken zu verbannen: sein zerbrechlicher, bleich und total erschöpft daliegender Vater. Diese Erinnerung hatte das Bild von ihm als jungem
Mann, groß, drahtig und unbeugsam, überlagert. Foster hingegen hatte aufgrund seines exzessiven Lebensstils und mangelnder Disziplin einen Rettungsring um die Taille angesetzt. Sein Vater verhielt sich in allem diszipliniert, im Trinken, Essen und Schlafen, auch in seinen Gefühlen. Alles war maßvoll und unter Kontrolle.
Foster stellte das Foto zurück und ging ein paar Unterlagen durch. Einige bezahlte Rechnungen, eine Einladung zu einem Dinner der Met und belanglose Alltagskorrespondenz. Nichts von alldem trug Vaters Stempel oder war Ausdruck seiner Seele.
Das Klingeln des Handys unterbrach Fosters unvermittelte Nabelschau.
»Hier ist Drinkwater.«
»Wie läuft’s?«
»Geht so. Wo sind Sie?«
Foster bemerkte, dass sein jüngerer Kollege zögerte. »Zu Hause. Haben Sie’ne Hauptrolle beim Verhör von Terry Cable abbekommen?«
»Ich war’ne Weile dabei.«
»Was sagt Ihnen Ihr Gefühl?«
Drinkwater machte eine Pause, dann antwortete er: »Er passt ins Profil und ist
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