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Das Erbe des Bösen

Das Erbe des Bösen

Titel: Das Erbe des Bösen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: dtv
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Sommer Rückschläge erlitten, mal sind die Nähte undicht, mal explodiert die Rotortrommel. Vor einigen Wochen, nach der Bombardierung Kiels, ist das ganze Projekt nach Freiburg verlegt worden.
     
    Erik richtete den Blick wieder zum Fenster, in dem sich der ihm gegenüber neben seiner Frau sitzende, weißhaarige Mann spiegelte. Er war ungefähr im Alter von Eriks Vater. Immer wenn er Deutsche dieser Generation gesehen hatte, hatte sich Erik zwangsläufig gefragt, was sie während des Krieges getan hatten. Manche von ihnen waren ehemalige S S-Leute , Agenten der Gestapo oder Wachsoldaten gewesen, die an der Rampe von Auschwitz die Juden in Empfang genommen hatten. So hatte er immer gedacht. Und sich gefragt, wie die Kinder dieser Menschen mit dem Wissen um so eine Vergangenheit oder auch nur mit einer Ahnung davon leben konnten.
    Und jetzt war er selbst eines dieser Kinder.
    Bevor er geheiratet hatte, war er mit einer Deutschen zusammen gewesen, Jutta. Mit ihr hatte er oft über dieses Thema gesprochen. Juttas bayerische Großeltern waren gewöhnliche Opfer des Krieges gewesen: Sie hatten einen ihrer Söhne, ihr Haus und ihre Bäckerei verloren und waren gezwungen gewesen, nach dem Krieg buchstäblich bei Null anzufangen.
    Der alte Mann, der Erik gegenüber saß, stieg mit seiner Frau an der Station Plänterwald aus. Etwas an der Art der beiden erinnerte |307| Erik an seine Eltern. Irgendwo hier in dieser Stadt hatten sie als junge Leute studiert, Examen gemacht, gearbeitet . . . allem Anschein nach auch geheiratet. Jahrelang hatten sie ein Leben geführt, von dem Erik nicht die geringste Ahnung gehabt hatte. Dieser Gedanke war kränkend, aber auf düstere Art auch faszinierend. Bevor er Jutta kennengelernt hatte, war Erik Deutschen mit Vorbehalten begegnet. Seine erste Erinnerung an Deutsche waren Bilder aus einer Fernsehdokumentation über die Nürnberger Prozesse, die er als Kind gesehen hatte. Ihm war lebhaft die Stelle im Gedächtnis geblieben, an der im Gerichtssaal die Lichter ausgingen und ein Film auf eine Leinwand projiziert wurde: Häftlinge, die in die Kamera starrten und wie schwankende Skelette aussahen. Es folgten Aufnahmen von Verbrennungsöfen und Planierraupen, die riesige Leichenberge zusammenschoben. Später hatte Erik auf die Gesichter der Angeklagten geblickt und sich immer wieder gefragt, wie jemand sich solcher unfassbaren Grausamkeiten schuldig machen konnte.
    Erik versuchte sich zu erinnern, wo er die Reportage gesehen hatte, denn zu Hause hatte es wohl kaum sein können. Ja, richtig, er hatte sie bei einem Freund gesehen, vielleicht bei Harry Dyson. Sein Vater wollte nicht, dass er sich Filme über den Krieg anschaute, nicht einmal Dokumentarfilme . . . Das hatte Erik damals sehr schade gefunden.
    Er hatte Jutta gefragt, was die Deutschen empfanden, wenn sie immer wieder Hollywood-Kriegsfilme sahen, in denen die Deutschen notorisch als brutale Sadisten dargestellt wurden. Nichts, hatte Jutta geantwortet, und Erik hatte ihr nicht geglaubt.
    Aber was hatten sein Vater und seine Mutter denn konkret getan?
    Die Behauptungen des Historikers Kohonen und Katjas Hinweise auf die Unterlagen seiner Mutter kamen Erik wie eine dunkle Wolke in den Sinn. Er wollte möglichst bald die Dokumente mit eigenen Augen sehen und von Angesicht zu Angesicht mit seiner Mutter reden, auch wenn ihm allein die Vorstellung die Kehle zuschnürte. Das Flugzeug würde erst spät in |308| London landen, aber er beschloss, seine Mutter trotzdem noch am selben Abend aufzusuchen.
    Erik richtete den Blick wieder auf das Tagebuch. 11.   November 1943.
     
    Endlich! Es ist uns gelungen, die Menge der an die Oberfläche gelangten Neutronen um sechs Prozent zu erhöhen. Die ganze Gruppe ist erschöpft von der Arbeit, aber keiner kommt auch nur im entferntesten auf die Idee, aufzugeben. Die Bombenangriffe werden immer heftiger. Rolf und ich haben sicherheitshalber einige Krater der erstaunlich effektiven Bomben der Alliierten mit dem Geigerzähler gemessen. Wir wollten sichergehen, dass der Feind nicht über eine kleine Fissionsbombe verfügt. Aber zum Glück haben wir keine Spur von Radioaktivität feststellen können.
     
    Im Licht der Taschenlampe betrachtete Malek die leeren Räume in Bardenitz, südlich von Berlin. Es sah aus, als wäre lange niemand mehr hier gewesen. Die mit Schimmelflecken übersäte Tapete löste sich von den Wänden, Spinnweben bewegten sich geisterhaft in der Luft, die durch die undichten Fenster zog.

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