Das Erbe des Bösen
aller Wahrscheinlichkeit nach unter einem anderen Namen als den der Eugenik erreichen müssen.«
Er hatte recht gehabt. Nach und nach wurde der Begriff Eugenik durch den der Genetik ersetzt, der wesentlich weiter gefasst und gesellschaftlich akzeptabler war. Hinzu kamen die Bezeichnungen »sozialer Darwinismus«, »soziale Biologie« und »Soziobiologie«. Der Eugenik war zur Unterstützung die in Mode gekommene Evolutionspsychologie zur Seite gesprungen. Freilich wusste Ingrid, dass schon Franz J. Kallmann seinerzeit fälschlicherweise für alles Mögliche einen genetischen Hintergrund gesehen hatte, sogar für die Tuberkulose, darum war sie sicher, auch von den Evolutionspsychologen würde man später sagen, sie hätten sich ein wenig zu sehr für den Einfluss der Gene auf das menschliche Verhalten begeistert.
Ein weiteres willkommenes Fach war die Bioethik. Bis lange nach dem Krieg ging man von klaren Vorgaben aus, was ethisch |351| erlaubt war und was nicht. Die Bioethik hingegen bot die Möglichkeit, unter anderem Euthanasie, Abtreibung, Genmanipulation, Klonen und Stammzellenforschung unter so vielen Gesichtspunkten zu betrachten, dass die Grenze zwischen Schwarz und Weiß, Richtig und Falsch mitunter verschwamm. Davon profitierte im Besonderen die immer stärker wachsende industrielle Gentechnologie.
Für Ingrid war die Eugenik so etwas wie Humanökologie und somit ein Teil der Umweltbewegung, aber Erik wollte das einfach nicht begreifen.
Das Telefon klingelte, als Ingrid gerade ohne Appetit ihr Frühstück verzehrte.
Katja. Oder Erik, dachte sie. Hoffentlich.
Sie nahm im Wohnzimmer den Hörer ab, aber am anderen Ende der Leitung war es still.
»Hallo«, sagte Ingrid noch einmal.
»Ingrid?«, fragte eine Frauenstimme.
Ingrid erkannte sie sofort.
»Katharina . . .« Sie tastete nach einem Stuhl und setzte sich.
»Ich wollte mich nur versichern, dass du die letzte Nacht überstanden hast. In der Winkelstraße sind zwei Häuserblocks zerstört worden. Der Eckladen von Zeller auch.«
Ingrid wollte schon sagen, dass ihr nichts fehlte, aber etwas an Katharinas Tonfall ließ sie widerspenstig werden.
»Red keinen Quatsch, Katharina«, sagte sie freundlich. »Der Krieg ist vorbei, und damit auch manches andere. Das weißt du doch?«
Am anderen Ende war es still. Gerade als Ingrid weiter reden wollte, sagte Katharina: »Ich wollte dich nur um Verzeihung bitten.«
Ingrid überlegte kurz, was sie sagen sollte, da tutete es in der Leitung. Katharina hatte aufgelegt.
Ingrid biss sich auf die Lippe und ließ den Hörer sinken. Was hatte das jetzt zu bedeuten?
|352| Katharina saß in ihrem Zimmer und legte das schnurlose Telefon aus der Hand. Die Pflegerin nahm es an sich und verließ den Raum. Die Tür schloss sie hinter sich ab.
Katharina starrte vor sich hin in die Vergangenheit. Ihre Gedanken sprangen hin und her, aber wieder einmal beruhigten sie sich bei der Erinnerung an die Schneeflocken, die der Wind ins helle Licht am Frankfurter Flughafen trieb. Hans war nicht mehr bei ihr, sie war allein, und sie hatte Angst. Und dennoch war sie euphorisch. Der Schneesturm hätte beinahe die Landung der Militärmaschine aus Berlin verhindert.
Ein amerikanischer Hauptmann brachte sie, Herbert und Helga Gerstner mit dem Jeep zum Frankfurter Hauptbahnhof, von wo sie mit dem Zug nach Bayern fuhren und die Nacht und die Dunkelheit hinter sich ließen. Wie strahlend hell dann der Himmel über Landshut gewesen war, als der Flug in die neue Welt begann.
Sie war voller Energie, Tatendrang und Zuversicht. Sie würde den Erwartungen, die in den Vereinigten Staaten in sie gesetzt wurden, schon gerecht werden.
Die Rückkehr aus den USA fünf Jahre später war wesentlich traumatischer ausgefallen.
Ingrid konnte nicht mehr weiter frühstücken. Katharinas Anruf hatte sie so überrascht, dass sie an nichts anderes denken konnte.
Gegen ihre Gewohnheit legte sie sich auf die Couch. Auf ihre alten Tage hatte Katharina sie also um Verzeihung bitten wollen.
Das war verständlich. Aber Ingrid hätte diese Bitte um Verzeihung lieber schon vor langer Zeit gehört. Damals, als noch alles . . . möglich war.
Sie hatte oft mit Katharina telefoniert, nachdem diese 1950 von Landshut, dem Sammelplatz der Paperclip-Wissenschaftler, nach San Antonio in Texas geflogen war. Aber bis sie sich getroffen hatten, war mehr als ein Jahr vergangen.
In San Antonio stand die Luftfahrtmedizinische Schule der U S-Luftwaffe , wo auch der
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