Das Erbe des Bösen
darüber?«
»Ich? Wie sollte ich . . .«
»Ich bin in Vaters Wohnung, um ausfindig zu machen, in welchem Hotel er wohnt. Hier sind Briefe aus Deutschland. Und Vater hat sie beantwortet. Auf Deutsch.«
Nach kurzen Pause fragte sie: »Von wem sind denn die Briefe?«
|40| »Der eine Absender ist ein gewisser Herman King. Die beiden anderen hat eine Katharina Kleve geschrieben.«
Wieder folgte eine Pause. Was war mit seiner Mutter los?
»Und von dieser Kleve hat Rolf Briefe bekommen?« Aus Mutters Stimme war mehr als bloße Überraschung herauszuhören, aber Erik wusste den Tonfall nicht zu deuten.
»Wer ist denn die Frau?«, fragte er.
»Ich habe nicht die geringste Ahnung.«
»Wusstest du, dass Vater Deutsch kann?«
»Nein. Und ich verstehe auch nicht . . .«
»Wäre es nicht natürlich gewesen, damals mit Jutta Deutsch zu reden, wenn er die Sprache schon beherrscht?« Erik merkte, dass er wütend wurde, aber er wusste nicht so recht, auf wen oder was genau.
»So weit ich weiß, spricht er gar kein Deutsch. Aber vielleicht hat er es nach der Scheidung gelernt.«
»Warum hat er sich den ganzen Tag nicht aus Berlin gemeldet?«
»Ich denke, es ist das Klügste, jetzt einfach abzuwarten. Wahrscheinlich hat er einfach sein Handy irgendwo liegenlassen.«
Die Worte seiner Mutter beruhigten Erik ein wenig. Natürlich war es möglich, dass sein Vater das Handy verloren hatte. Aber wusste Mutter tatsächlich nichts von den Deutschkenntnissen ihres Ex-Mannes?
Erik faltete die Hotelreservierung zusammen und steckte sie ein. Sicherheitshalber notierte er sich auch die Adressen von Herman King und Katharina Kleve. Als er die Briefe wieder in die Schublade legte, fiel sein Blick auf einen Brief ohne Umschlag, dessen Unterschrift ihn veranlasste, die Zeilen zu überfliegen.
Sehr geehrter Herr Narva!
Im Rahmen meiner Forschungsarbeiten stelle ich derzeit Material über die Zusammenarbeit von finnischen und deutschen Wissenschaftlern in den 1930er- und 1940er-Jahren zusammen. Laut den Angaben, die ich im Archiv der Universität
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Helsinki gefunden habe, sind Sie 1937 zum Studium nach Berlin gegangen. Wäre es eventuell möglich, dass ich Sie über die Ereignisse jener Zeit befragen dürfte?
Mit freundlichen Grüßen,
Dr. Juhani Kohonen, Universität Helsinki.
»Was zum Teufel geht hier eigentlich vor«, sagte Erik laut.
Die Stille in der Wohnung wirkte jetzt noch bedrückender als zuvor.
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Rolf saß auf der Rückbank des Audi-Kombi, Hoffmann neben ihm. Der reagierte aber in keiner Weise auf Rolfs Versuche, ein Gespräch anzufangen.
Am Steuer saß der jüngere und muskulösere der beiden Männer, den Hoffmann immer Manfred nannte. Er trug sein dunkles Haar modisch kurzgeschnitten, und an seiner Hand prangte ein protziger goldener Ring. Sie fuhren mit hoher Geschwindigkeit auf einer Landstraße irgendwo südlich von Berlin.
Trotz seines Entsetzens gab Rolf sich Mühe, klar zu denken. Die Situation war absurd, außerdem hatte er sich noch immer nicht von dem Schlag erholt, den ihm die Begegnung mit Katharina versetzt hatte. Durchlebte sie in ihren Erinnerungen nur noch jene Zeitspanne? Jene alptraumhaften, grauenvollen Monate?
Rolf hätte lieber nichts von Katharinas Erinnerungen gehört, er hätte lieber nie mehr etwas davon erfahren. Doch er wusste es bereits seit den Fünfzigerjahren. Siegfried Ruff, der an den Menschenversuchen in Dachau beteiligt gewesen war, hatte nach dem Krieg als hochrangiger Arzt bei der Lufthansa und als Leiter des luftfahrtmedizinischen Instituts der Universität Bonn gearbeitet. Doktor Hubertus Strughold wiederum war 1949 zum Leiter der raumfahrtmedizinischen Abteilung am Institut für Luftfahrtmedizin der amerikanischen Luftwaffe ernannt worden. Rolf hatte »Strugi« Strughold unzählige Male bei beruflichen Besprechungen in Texas, aber auch in Cape Canaveral, getroffen.
Und Strughold verfügte tatsächlich über das Material, das Katharina quälte. Rolf hatte mit eigenen Augen die Blutdrucktabellen, |43| Fotos, EK G-Kurven und Handschriftproben aus verschiedenen Flughöhen gesehen. Sie stellten unersetzliches, einzigartiges luftfahrtmedizinisches Forschungsmaterial dar, das ohne Menschenversuche unmöglich zustandegekommen wäre. Und genau diese Tatsache hatte sich Strughold in seiner neuen Heimat USA zu Nutze gemacht. Mit den Jahren war er zum »Vater der Luftfahrtmedizin« avanciert, der einen wesentlichen Beitrag zur militärischen und zivilen Luftfahrt sowie zur
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