Das Erbe des Bösen
Weltraumforschung leistete. Seine Handschrift war ganz konkret an den Astronautenanzügen und an der Apollo-Mondlandefähre zu erkennen. Es bestand hier eine gespenstische, unmittelbare Verbindung zwischen den qualvollen Toden in der Druckkammer des Konzentrationslagers Dachau und den ersten Menschen auf dem Mond.
Rolf hatte aus nächster Nähe verfolgt, wie die Vereinigten Staaten, nachdem sie Nazideutschland in die Knie gezwungen hatten, ihre ganze Energie darauf richteten, den neuen Feind, die Sowjetunion, zu übertrumpfen – in der Waffentechnik, in der Luftfahrt, in der Eroberung des Weltraums. Und in diesem Kampf taugten sogar Nazis als Verbündete. Rolf hatte diese Doppelmoral nie akzeptieren können – dennoch waren auch er und Ingrid in dieses Spiel hineingezogen worden: in den Kalten Krieg, bei dem ohne Regeln und mit dubiosesten Mitteln gekämpft wurde.
Aber sollte das Echo jener Jahrzehnte zurückliegenden Zeit bis in den heutigen Tag hinein nachhallen?
Rolf dachte an den Brief von Herman King. Er hatte King seine Telefonnummer natürlich nicht geschickt, denn er wollte mit dem Mann nichts zu tun haben. Dem war es aber trotzdem gelungen, Rolfs Nummer ausfindig zu machen. King hatte ihn in Helsinki angerufen, und Rolf hatte sofort aufgelegt.
War es möglich, dass King ihn mit Katharinas Hilfe nach Deutschland gelockt hatte?
Verstohlen warf Rolf einen Blick auf den Entführer neben sich auf dem Rücksitz und konnte sich das alles nicht erklären.
Sie rasten durch die ländliche Gegend außerhalb von Berlin. |44| Rolf nahm einen Schluck Wasser aus der Flasche, die Hoffmann ihm gegeben hatte, und versuchte sich zu beruhigen. Er musste einfach abwarten, was kommen würde.
Katharina zog seine Gedanken an wie ein Magnet. Nicht die Katharina, die er vorhin gesehen hatte, sondern die Frau, in die er sich einst verliebt hatte. Es war unfassbar für ihn, was Katharina in Dachau getan hatte. Während des Krieges hatte Rolf nichts über ihre Arbeit gewusst, die entsetzlichen Details waren ihm erst in den Vereinigten Staaten klar geworden. Jeder, der Strugholds Forschungsergebnisse zu Gesicht bekam, begriff, dass sie auf Menschenversuchen beruhten. In den USA wurde das stillschweigend übergangen.
Wie hatte Katharina als junge Ärztin zu so etwas fähig sein können? Er konnte nicht glauben, dass sie es sich leicht gemacht hatte. Würde sie die Ereignisse von Dachau jetzt noch einmal so qualvoll durchleben, wenn es sie damals kaltgelassen hätte? War es ihre Art der Verdrängung, wenn sie das Leiden der Gefangenen jetzt herunterspielte, oder war Katharina tatsächlich ein so pathologisch kalter Mensch? Hätte er sich als junger Dummkopf in ein solches Wesen verlieben können? Nichts in Rolfs Erinnerungen an die Zeit stützte diesen Gedanken. Was Ingrid betraf, vielleicht, aber nicht bei Katharina.
Rolf war schon früh aufgefallen, dass Ingrid an ihm interessiert sein
könnte
. Lange war ihm das eher unangenehm gewesen. Denn falls sie sich einmal in Paare aufteilen sollten, gab es nur eine Variante, hatte er gedacht: er und Katharina, Hans und Ingrid. Bald hatte er aber erkennen müssen, dass Hans sich für Katharina interessierte, doch auch die Beziehung der beiden entwickelte sich lange nicht in eine romantische Richtung. Dennoch hinderte irgend etwas ihn, gegenüber Katharina die Initiative zu ergreifen.
Die vier ehrgeizigen jungen Wissenschaftler verbrachten ihre Zeit an den Instituten und in den Labors. Je länger der Krieg andauerte, umso mehr wuchs die Arbeitsbelastung, und es blieb ihnen nicht viel Freizeit. Doch sie genossen diese wenige Zeit |45| in vollen Zügen. Nach Ausbruch des Krieges waren die jungen deutschen Männer an die Front geschickt worden, und Hans erklärte Rolf gegenüber lachend, als männlicher Wissenschaftler lebe man »wie der Hahn in einem riesigen Hühnerstall«. Hans war wesentlich offener im Umgang mit anderen als der schüchterne Rolf. Außerdem war Hans mehr auf sein Vergnügen aus, und in seiner Gesellschaft fand sich auch für Rolf leicht weibliche Begleitung. Hans hatte behauptet, der Partei nur deshalb beigetreten zu sein, weil sich für Parteimitglieder alle Türen des Berliner Nachtlebens auftaten, auch diejenigen, die sich sonst nicht so ohne weiteres öffneten. Das war natürlich Blödsinn. In Wirklichkeit hätte es unter den deutschen Forschern nur für unnötige Aufmerksamkeit und Verwunderung gesorgt, wenn einer von ihnen auf die Parteimitgliedschaft verzichtet
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