Das Erbe des Bösen
hätte. Rolf hatte sich nie für Politik interessiert. Seine gesamte Energie hatte er auf die Wissenschaft gerichtet. Für ihn hatte es keine »arische Physik« und keine »jüdische Physik« gegeben, sondern nur die eine, unbestechliche Physik.
Angeregt durch Hans’ Vorbild stellte auch Katharina schließlich einen Aufnahmeantrag. Wenn sie es wollten, wurden Rolf und Ingrid in der Gesellschaft von Hans und Katharina zu jedem Sonnabend-Bacchanal eingelassen, das die Hautevolee der Berliner Nazis veranstaltete. Vor allem seit dem Sommer 1940 strömte an den Tischen des neuen Deutschen Adels – der »Pfaue«, wie vor allem alte Linke die Nazibonzen nannten – französischer Wein und Kognak, und auf den Speisekarten standen nach langer Zeit wieder Mastkalb, Lamm und Ente, Trüffel, Muscheln, Austern, feine Käse, Oliven und Gänseleber.
»Deutschland hat den Krieg gewonnen! Essen wir und trinken wir, denn morgen sterben wir! Heißt es so nicht schon in der Bibel?«, grölte Hans mit einer dicken Zigarre in der Hand – und immer öfter mit Katharina im Arm.
Die Hochzeit von Hans und Katharina im Sommer 1942 war der Wendepunkt gewesen. Hans hatte Rolf dessen große Liebe weggenommen. Was blieb ihm? Sollte er die Zweitbeste nehmen? |46| Und war das tatsächlich Ingrid? Nicht unbedingt, fand Rolf, aber die zielstrebige Ingrid wusste längst, was sie wollte, und sie wollte Rolf. Eine junge Frau wie sie, als Tochter eines Fabrikanten von klein auf verhätschelt, war es gewohnt, zu bekommen, was sie wollte. Überhaupt redete sie dauernd von ihrem Vater, dass es Rolf schon geradezu lächerlich vorkam: Papa hier und Papa da, wie ein kleines Mädchen. Und was für eine Begeisterung es in der Tochter auslöste, als der Papa vom Reichsführer SS, Himmler höchstpersönlich, einen Orden erhielt, als Anerkennung für die umfangreiche Rekrutierungsarbeit für die Wiking-Division der Waffen-SS in Schweden!
Alles an Ingrid war im Stil der Upperclass perfekt gepflegt: ihre kühle, beinahe maskuline, Greta-Garbo-artige Stimme, die durch die sorgfältige, leicht ins Nasale spielende Artikulation noch betont wurde; die vornehm dezenten, grauen oder schwarzen, stets der aktuellen Mode entsprechenden Kostüme, die Perlenketten, ihre weißen Handschuhe, das dezente Make-up nach deutscher Art, die kurzen, platinblonden Locken, die schmale, aristokratische Adlernase, der strenge, aber schön geformte Mund . . . In Schuhen mit normalen Absätzen war sie fast auf den Zentimeter so groß wie Rolf, und regelmäßige Gymnastik hatte ihren schlanken Körper nahezu perfekt geformt.
Tatsächlich konnte Rolf sich seinen anfänglichen leichten Widerwillen gegenüber Ingrid nur damit erklären, dass sie eigentlich nicht »sein Typ« war. Jeder andere Mann hätte sie mit Sicherheit für umwerfend gehalten. Am frappierendsten an Ingrid waren wohl ihre kristallklaren, himmelblauen Augen. Rolf erinnerte sich, gleich bei der ersten Begegnung seine Aufmerksamkeit vornehmlich auf diese außergewöhnlichen Augen gerichtet zu haben. Hätten sie nicht ein kleines bisschen hervorgestanden, wären sie schön gewesen. So aber ging von ihnen vor allem etwas Hypnotisches und Geheimnisvolles, aber auch etwas Hartes aus. Seltsamerweise entschied Ingrid sich im Rahmen ihres Studiums prompt für die Augenforschung.
Für das Zusammensein blieb Rolf und Ingrid freilich nicht viel |47| Zeit. Beide hatten lange Arbeitstage und schrieben nebenher an ihren Dissertationen. Rolf promovierte im September, Ingrid im Oktober 1942. Schließlich wurde ihr Verhältnis doch rasch intensiver, und im Frühling 1943 schockierte Ingrid Rolf mit der Nachricht, sie erwarte ein Kind von ihm.
Es hatte sich um ein Versehen gehandelt, aber Rolf wollte sich der Verantwortung nicht entziehen. Im Mai 1943 wurden sie in einer schlichten, schmucklosen deutschen Zeremonie getraut. Den Formalitäten entsprechend mussten beide versichern, rein arischer Abstammung zu sein. Rolf wurde dadurch noch fester mit Deutschland verbunden. Obgleich er jung und obendrein Ausländer war, behandelte man ihn mit Respekt. Finnland war bis zum Herbst 1944 ein geschätzter Bündnispartner und die Finnen fast ein »Brudervolk«. Und so wurde Rolf vom Metzger, vom Bäcker und auch vom Friseur immer nur als »Herr Doktor« angesprochen. Die Krönung bildete die Tatsache, dass die schöne schwedische Gattin des jungen Herrn Doktors nicht nur eine angeheiratete, sondern selbst ebenfalls eine echte Frau Doktor
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