Das Erbe des Bösen
Leichter wäre es, ihn selbst gehen zu lassen und ihn dann an der geeigneten Stelle zu töten. Wenn sie wenigstens seine Leiche irgendwo liegen ließen, damit seine . . . Nichts wäre für Katja und die Kinder schlimmer als die Ungewissheit. Und für seine Mutter . . .
Er erschrak. Eine Wagentür wurde geöffnet. Man hörte die undeutlichen Worte von Männern. Und plötzlich durchfuhr es Erik wie ein Blitz: Er würde nicht aufgeben. Wegen Katja, Olivia und Emil würde er bis zum Schluss kämpfen. Er musste einen Weg finden. Mit aller Kraft versuchte er noch einmal, Hände und Füße auseinanderzuziehen, aber das Klebeband hielt ihn fest im Griff.
Denk nach!, sagte er sich immer und immer wieder. Denk nach! Mit dem Kopf und den gefesselten Händen versuchte er einen Gegenstand zu ertasten. Irgendeinen. Die Stimmen der |445| Männer kamen jetzt näher. Sie standen unmittelbar vor dem Kofferraum.
Unter Aufbietung all seiner Kräfte gelang es Erik, den Rücken nach hinten zu schieben. Dabei stieß sein Arm gegen etwas Weiches. Mit den fast tauben Händen betastete er das weiche Etwas. Es fühlte sich wie Stoff an. Wie ein Kleidungsstück. Erik hörte, dass sich die Männer draußen noch immer unterhielten. Er schob sich immer näher an den Gegenstand in seinem Rücken heran und tastete über den Stoff.
Plötzlich erreichte er dessen Rand und eine Art Öffnung.
Er schob die Hände ein Stück weiter und spürte erneut etwas Weiches. Erik betastete den Gegenstand und begriff auf einmal: er hatte die Hand eines anderen Menschen ertastet.
Die Hand war kalt. Eriks Schrei wurde durch das Klebeband vor dem Mund erstickt.
Im selben Moment ging der Kofferraum auf. Zu Eriks Überraschung schenkten ihm die Entführer keinerlei Beachtung, sondern zerrten die hinter ihm liegende Leiche heraus und schlugen den Kofferraumdeckel wieder zu.
Erik verstand überhaupt nichts mehr. Aber wenigstens lebte er. Fragte sich nur, wie lange noch.
Katja war unruhig, solange sie nach dem Einbruch von ihren Kindern getrennt sein musste. Die ganze Zeit hatte sie Angst, ihnen würde etwas zustoßen.
Viel zu schnell fuhr sie die letzten dreihundert Meter bis zu Vivians Haus, dann schlug sie die Tür zu und eilte in das von wildem Wein überwucherte viktorianische Haus.
»Wo ist Papa?«, schallte es Katja aus dem farbenfrohen Wohnzimmer entgegen. Olivia wirkte verstört, Vivian sah von der Tür aus besorgt zu.
»Er hat noch zu tun. Aber er kommt bald, keine Sorge«, sagte Katja und musste all ihre Willenskraft aufbieten, um wenigstens einigermaßen normal zu klingen. Sie merkte, dass Olivia etwas spürte, aber zum Glück stellte ihre Tochter keine weiteren Fragen. |446| Noch im Auto hatte Katja mehrere Male versucht, den MI 5-Beamten Griffin anzurufen, bei dem sie mit Erik gewesen war, aber er war noch immer nicht zu erreichen.
»Möchtest du eine Tasse Tee? Was hat die Polizei gesagt?«, fragte Vivian.
Katja wollte gerade antworten, als ihr Handy klingelte.
»Katja . . .« Ingrids Stimme klang seltsam bewegt. »Ich habe versucht, Erik zu erreichen, habe ihm auch Nachrichten hinterlassen, aber er meldet sich nicht. Ich will mit ihm reden, könntest du ihn bitte zur Vernunft bringen? Dieses Schweigen hat doch keinen . . .«
»Das ist im Moment nicht das Problem. Ich erreiche Erik selbst nicht«, sagte Katja und war trotz allem erleichtert, Ingrids Stimme zu hören. Sie überlegte, ob sie ihrer Schwiegermutter von dem Einbruch erzählen sollte. Nein, das war sinnlos. Während sie sprach, ging sie in Vivians Atelier, wo es nach Ölfarben roch. »Erik wollte bloß etwas erledigen, und jetzt meldet er sich nicht, wenn man ihn anruft. Er ist verschwunden. Ich mache mir Sorgen um ihn.«
Ingrid schwieg am anderen Ende der Leitung. Dann murmelte sie: »Was habe ich nur getan . . .«
»Genau das frage ich mich auch.
Was
hast du eigentlich getan?«
»Hat er mit der Polizei gesprochen?«
»Ja. Ich war mit ihm dort. Aber sie haben uns nicht ernst genommen.«
»Was habt ihr ihnen denn erzählt?«
In Katja stieg Wut auf. »Keine Sorge«, fuhr sie ihre Schwiegermutter an, »wir haben nichts über dich erzählt. Es ist unglaublich. Dein Sohn ist verschwunden, aber du machst dir lediglich um deinen Ruf Sorgen.«
»Katja, so habe ich das nicht gemeint . . .«
»Ich kann jetzt nicht weiterreden. Ich bin müde«, sagte Katja und beendete das Gespräch.
|447| Im hell erleuchteten unterirdischen Konferenzraum der Residenz des Premierministers in
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