Das Erbe des Bösen
Peking?«
»Ich fliege nicht nach Peking. Thomas fliegt für mich.«
»Du wärest besser geeignet als Thomas«
, murmelte die Mutter.
»Und was ist mit Katja und den Kindern?«
»Sie kommen mit der Abendmaschine in Heathrow an. Katja besucht dich morgen früh.«
»Gut . . .«
, sagte die Mutter etwas unsicher.
Erik stieg aus dem Wagen und eilte im Laufschritt auf das |55| Haus zu, in dem sein Vater wohnte. Seine Mutter hatte viel für Gendo getan, aber ihre Bevormundungsversuche ärgerten ihn jedesmal.
Erik lief die Treppe in den zweiten Stock hinauf und überlegte dabei, wie viel er eigentlich über die Vergangenheit seiner Eltern wusste. Die Antwort war: sehr, sehr wenig. Als er auf die Welt kam, waren seine Eltern beide bereits vierzig gewesen.
In der Wohnung seines Vaters ging er geradewegs zum Arbeitszimmer, blieb aber auf der Schwelle wie vom Blitz getroffen stehen.
Der Inhalt sämtlicher Schränke und Schubläden war auf den Fußboden gekippt worden, jemand hatte die Bücher aus den Regalen genommen und achtlos hingeworfen. Es herrschte die totale Verwüstung.
Erst eine Stunde zuvor hatte Erik die Wohnung verlassen, um zu Kohonen zu fahren. Hatte er vergessen abzuschließen? Nein, in solchen Dingen war er sogar übertrieben genau. Immerhin stand der Computer noch an seinem Platz, ebenso der Fernseher. Erik machte kehrt, um die anderen Räume in Augenschein zu nehmen, da hörte er ein Geräusch aus der Küche, als würde eine Schranktür zugeschlagen.
Es war noch jemand in der Wohnung! Er hatte den Eindringling überrascht.
Im Nu blitzte in seinen Gedanken ein Spektrum von Handlungsmöglichkeiten auf: Der Eindringling würde
ihn
angreifen oder fliehen. Oder
er
würde den Eindringling attackieren – oder fliehen.
In London las er jeden Tag in der Zeitung über Morde, die von ertappten Einbrechern verübt wurden. Aber jetzt war er in Helsinki.
Doch auch dieser Gedanke half nicht viel. Erik versuchte gar nicht erst, sich einzureden, dass heldenhaftes Eingreifen in dieser Situation eine ernsthafte Alternative sein konnte. Emil und Olivia war ein lebendiger Vater gewiss lieber als ein toter Held. Er lauschte regungslos, hörte aber nur das beinahe schmerzhafte |56| Pochen seines Herzens und im Hintergrund das Rauschen der Stille.
Wer war dieser Typ? Und was hatte er vor?
Er wusste wahrscheinlich, dass er nicht mehr alleine in der Wohnung war.
Erik wollte kein Risiko eingehen. Er beschloss, auf direktem Weg zur Wohnungstür und hinaus ins Treppenhaus zu rennen. Zunächst machte er zwei vorsichtige Schritte, bis er die Wohnungstür am anderen Ende der halbdunklen Eingangshalle sah. Er spannte seine Muskeln an und wollte gerade losstürmen, als durch die Küchentür ein Mann in die Eingangshalle trat. In Eriks Bewusstsein dehnten sich die Sekunden, während er den Anblick registrierte: Ein dunkelhaariger Mann, etwa in seinem Alter, richtete die Waffe auf ihn und ging dabei ruhig zur Tür. In der anderen Hand hielt er eine kleine, gerahmte Fotografie.
Rückwärts verließ der Mann die Wohnung und achtete bis zum letzten Moment darauf, dass Erik nichts unternahm.
Dann fiel die Tür ins Schloss.
Erik starrte einen Moment in der leeren Eingangshalle vor sich hin, dann schaffte er es, sich in Bewegung zu setzen. Er stürzte ans Fenster, stolperte aber über etwas am Boden und fiel hin. Nachdem er sich aufgerappelt hatte, schaute er atemlos auf die Straße hinunter, sah aber niemanden mehr.
Er tastete nach dem Handy in seiner Tasche.
»Notfallzentrale.«
Erik nannte seinen Namen und die Adresse, dann schilderte er, was geschehen war: »Ich habe hier einen bewaffneten Mann angetroffen, der in der Wohnung ein totales Durcheinander angerichtet hat . . .«
»Gibt es Verletzte?«
»Nein.«
»Ich schicke eine Streife vorbei. Wenn Sie sich unsicher fühlen, können Sie in der Leitung bleiben.«
»Der Mann hat die Wohnung schon verlassen. Ich warte hier auf die Polizei.«
|57| Nervös ging Erik ins Wohnzimmer. Also waren auch finnische Einbrecher bewaffnet? Warum erstaunte ihn das so?
In allen Räumen herrschte ein entsetzliches Durcheinanderr, selbst die Küchenschränke hatte er durchwühlt. Offenbar hatte der Eindringling ohnehin vorgehabt, zu gehen. Wer war der Mann? Warum war er hier gewesen? Suchte er etwas Bestimmtes? Das schien die einzig vernünftige Erklärung zu sein, denn sämtliche wertvollen Gegenstände waren an ihrem Platz. Oder hatte der Eindringling sich erst ein Bild vom Inventar
Weitere Kostenlose Bücher