Das Erbe des Bösen
bist du denn nicht im Museum gegangen? Da gab es sogar richtige Toiletten.«
Siru ließ sich auf eine Bank fallen und nahm mehrere große Schlucke aus dem Flachmann, den sie aus der Brusttasche ihrer mit Nieten verzierten Lederjacke geangelt hatte.
Die verzieht dabei nicht einmal das Gesicht, dachte Tuukka. Dass eine zwanzigjährige Schwesternschülerin eine derart routinierte Säuferin sein konnte! Ansonsten war Siru zwar eine echte Qualitätsbraut, aber unter normalen Umständen war es besser, sie von Spirituosen fern zu halten.
Tuukka ging ein Stück weit über den Rasen. Roope war zwei Wochen zuvor hier gewesen, und die richtige Stelle musste ganz in der Nähe sein: nach dem Eisstand vom Hauptweg rechts in den ersten Seitenweg abbiegen; die gegabelte Eiche weit weg von allen Wegen, abseits der Menschen, von denen im Park ohnehin nicht viele zu sehen waren; das schwarze Loch im linken Stamm, etwa auf Augenhöhe . . .
Er fand die Stelle. Tuukka nahm den Discman aus der Tasche seiner Lederjacke, öffnete das Gehäuse durch Drücken an sechs verschiedenen Punkten und entnahm ihm ein kleines, flaches Metallkästchen. Er brachte den kleinen Kippschalter an dem Gerät in die andere Position, und schon blinkte ein rotes Licht.
Vorsichtig ließ er das Gerät in die Baumhöhle gleiten und spähte ihm sogar noch hinterher, um sich zu versichern, dass das Lämpchen auch blinkte. Zuerst wollte er das Gehäuse des Discman samt Kopfhörer ins Gebüsch werfen, aber dann beschloss er doch, alles mitzunehmen. Siru sollte keinen Grund haben, sich über das Verschwinden des Apparats zu wundern. Außerdem hatten die russischen Zollbeamten an der Grenze unter Umständen den Discman als Teil seines Reisegepäcks aufgeschrieben. Und es war sicher klug, wenigstens nach außen hin den Anschein zu vermitteln, dass man alles, was man ins Land gebracht hatte, auch wieder mit nach Hause nahm.
|74| Eigentlich Quatsch, dachte er grinsend. Zu viel ›CSI‹ geguckt . . . Jeder Idiot wusste, wie man seine Spuren verwischt.
Siru wartete brav auf ihrer Parkbank. Die Ellenbogen auf die Knie gestützt, rauchte sie eine Menthol-Zigarette. Ihre engen, hüftigen Markenjeans ließen fast den halben Hintern sehen. Die Absätze ihrer hellroten, mit Rosetten verzierten Stiefeletten waren komplett schiefgetreten. Die Frau sah aus wie der Inbegriff des Überdrusses.
»Tuukka«, vernahm er ihre näselnde Stimme von irgendwoher aus ihren honigblonden Locken.
»Ja?«
»Das ist das letzte Mal, dass ich mit dir zu diesen abgefuckten Sowjets hier fahre. Kapiert?«
»Brauchst du auch nicht mehr. Das nächste Mal fahren wir nach London oder so. Dann kannst du richtig shoppen.«
»Endlich mal Klartext.« Siru drückte ihre Zigarette aus, stand auf und schob sich in Tuukkas Arm, wie um Halt zu finden.
»Wir schnappen uns da drüben ein Taxi«, sagte Tuukka. »Wir müssen rechtzeitig unseren Kram aus dem Hotel holen, bevor der Sibelius abfährt.«
Er fühlte sich unerwartet befreit. Am liebsten hätte er etwas vor sich hin gesungen, aber aus irgendeinem Grund fiel ihm nur etwas ein, was sein alter 68er-Vater beim Grillen im Sommer immer grölte . . . Wie ging das noch . . . ursprünglich kam das Lied aus Russland . . .
»Es brach aus die Revolution . . . es kamen Recht und Freiheit . . . ich hört’s aus ihrem Mund . . .«
Seine Stimme wollte die richtigen Töne nicht treffen, mal war sie zu tief, mal zu hoch, aber beim Refrain stimmte es dann:
»Meine Reiseführerin, so wunderschön . . . Nata . . . liiiieeee . . .«
»Tuukka. Nicht singen.«
Tuukka musste lächeln. Die Jungs hatten inzwischen wahrscheinlich alles fertig.
Am Taxistand bildeten die wartenden Autos eine Schlange. Die Schläfrigkeit des Augusttages war mit Händen zu greifen. Es |75| war, als hätten sich sämtliche fünf Millionen Einwohner der Stadt in ihre Datschas oder Schrebergärten irgendwo weit weg verzogen.
Gut so. Er würde mit den Jungs erst nach dem Grenzübertritt telefonisch Kontakt aufnehmen. Was seinen Part betraf, so war jetzt alles zu hundert Prozent erledigt.
Er spürte die Erleichterung und die gute Laune als Druck in der Herzgegend. Wie viele hätten sich so etwas getraut? Wie viele wären überhaupt auf die Idee gekommen?
»Über die Felder . . . die goldengelben . . . trairairai, rairairairairaaa . . .«
»Tuukka! Halt die Fresse! Im Ernst.«
|76| 10
Nervös wartete Rolf auf Hoffmann, der ihn inzwischen wieder alleine gelassen hatte. Seine Gedanken irrten
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